Muss die Gesellschaft vor dem Kopftuch geschützt werden? – Teil 1

Ein neues Gesetz ermöglicht ein Kopftuchverbot für Staatsbedienstete. Lehrerinnen und Richterinnen könnten von ihren Berufen ausgeschlossen werden. Eine Einordnung.

Auch wenn sich das im Sommer 2021 in Kraft getretene Gesetz zum Erscheinungsbild von Beamtinnen und Beamten1 nicht explizit gegen das Kopftuch richtet, sorgen doch vor allem die Auswirkungen für kopftuchtragende Musliminnen für Diskussionsstoff.

Das ana magazin möchte die Hintergründe erklären: Wie konnte es so weit kommen und worauf kommt es bei der Bewertung an? In einem zweiten Teil werden schließlich die unterschiedlichen Blickwinkel und Argumente einander gegenübergestellt.

Polizeibeamter mit Nazi-Tätowierungen

Ausgangspunkt des Gesetzes war die Entfernung eines Polizeibeamten aus dem Beamtenverhältnis aufgrund seiner verfassungsfeindlichen, nationalsozialistisch geprägten Tätowierungen. Das Bundesverwaltungsgericht entschied 2017, dass die „Kündigung“ wegen der u.a. in den Tattoos zum Ausdruck kommenden Missachtung demokratischer Werte berechtigt war. Allerdings kritisierte es, dass keine rechtliche Grundlage existiere, die die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis aufgrund verfassungsfeindlicher Tattoos regele.

Möglichkeit des Verbots religiöser Symbole

Der Aufforderung des Bundesverwaltungsgerichts, eine Rechtsgrundlage zu schaffen, kam der Gesetzgeber im Sommer 2021 schließlich nach. Jedoch schuf er nicht nur die Möglichkeit, das Tragen und Zeigen sog. „weltanschaulicher“ Merkmale und Symbole, wie etwa dem Hakenkreuz, zu verbieten. Vielmehr ging er einen erheblichen Schritt weiter: In den neu gefassten § 61 Bundesbeamtengesetz (BBG) und § 34 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) werden darüber hinaus auch religiös konnotierte Merkmale des Erscheinungsbildes erfasst. Folglich kann das Tragen religiöser Symbole untersagt werden, wenn allein durch das Tragen das Vertrauen in die neutrale Amtsführung der Beamtin oder des Beamten beeinträchtigt werden kann.

Mit dem neuen Gesetz ist also eine Grundlage dafür geschaffen, neben – eigentlich Auslöser für das Gesetz gewesener– Nazi-Tattoos auch das Tragen eines Kopftuchs bei Beamtinnen zu untersagen. Das Tragen der jüdischen Kippa oder des christlichen Kreuzes könnte ebenfalls als „religiös konnotierte Merkmale“  untersagt werden.

Die Betroffenen

Von der Möglichkeit des Verbots dürften jedoch insbesondere muslimische Beamtinnen betroffen sein, die ein Kopftuch tragen. Schließlich gibt es wohl kein anderes Zeichen religiöser Zugehörigkeit, das über die vergangenen Jahren hinweg so oft im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses stand. So wird in dem Tragen eines Kopftuchs häufig nicht die religiöse Bedeutung anerkannt, sondern dies als ein Ausdruck oder gar Bekenntnis zu einem politischen, konservativen, fundamentalistischen und radikalen Islam (miss)verstanden2.

Auch wenn das Tragen der jüdischen Kippa oder des christlichen Kreuzes also von § 61 BBG und § 34 BeamtStG ebenfalls erfasst wird, konzentriert sich dieser Beitrag daher auf das Kopftuch und die ca. 792.000 Musliminnen3, die in Deutschland leben und ein Kopftuch tragen.

Die Relevanz der Thematik wird durch die vermeintlich geringe Anzahl im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung in Deutschland jedoch keinesfalls geschmälert: Es geht um die grundlegende Frage, wie mit der optischen und religiösen „Andersartigkeit“, die von manchen als Fremdheit wahrgenommen wird, umzugehen ist. Soll das Bekenntnis zu einer Religion zu gesellschaftlichem und beruflichem Ausschluss führen? Muss eine Anpassung stattfinden? Falls ja, wer sollte sich anpassen (müssen)?

Eine juristische Einordnung

Zusammenfassend lässt sich fragen: Braucht es in Deutschland ein Verbot religiöser Symbole und Merkmale im Staatsdienst? Ist die daraus resultierende Möglichkeit, das Kopftuch aus Gerichten, und Schulen zu verbannen, sogar gut und richtig?

Die Beantwortung kann nur unter Berücksichtigung der rechtlichen Dimension der Thematik beantwortet werden. Um einen kurzen Exkurs des juristischen Einmaleins sollte an dieser Stelle kein Bogen gemacht werden: Denn an der Thematik des Kopftuchverbots lässt sich  hervorragend die Systematik juristischer Entscheidungen aufzeigen, die Gerichtsurteilen zugrunde liegt, deren Gegenstand die Bewertung von staatlichen Eingriffen in die Grundrechte von Bürger:innen ist. Schwarz oder Weiß, richtig oder falsch – so einfach wie es die eigene (emotionale) Weltsicht oder der persönliche Gerechtigkeitssinn vorgibt, dürfen es sich Gerichte zum Glück nicht machen.

Grundrechtsprüfung in zwei Schritten

Immer, wenn in Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen wird, muss dies in einem nach Art und Intensität zu rechtfertigenden Rahmen geschehen. Die Prüfung dieser Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs hat dabei in zwei Schritten zu erfolgen: 

  1. Benennung der Grundrechte, in die durch das staatliche Handeln (hier: Kopftuchverbot) eingegriffen wird. 
  2. Prüfung, ob dieser Eingriff zugleich eine „unzulässige“ Verletzung der entsprechenden (Grund-)Rechte bedeutet. Das ist nicht der Fall, wenn der Eingriff gerechtfertigt ist.

Vereinfacht ausgedrückt: Das Betroffensein eines Grundrechts für sich alleine, wie z.B. der Religionsfreiheit, begründet noch nicht die Unzulässigkeit eines Kopftuchverbots. Vielmehr muss der Eingriff auch nicht zu rechtfertigen sein, weil er „unverhältnismäßig“ ist.

Betroffene Grundrechte der Musliminnen

In einem ersten Schritt sind daher die betroffenen Grundrechte der Musliminnen, die von einem Kopftuchverbot betroffen sein könnten, zu benennen. Folgende kommen in Betracht:

  • Religions- und Glaubensfreiheit, geschützt durch Art. 4 GG
  • Berufsfreiheit nach Art. 12 GG
  • Auch Art. 33 Abs. 3 GG ist berührt: Danach ist die Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. D.h., niemandem darf aus der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnis oder zu einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen. Damit ist ein Zusammenhang zwischen der Zulassung zu öffentlichen Ämtern und dem religiösen Bekenntnis ausgeschlossen. Folglich bezieht sich Art. 33 Abs. 3 GG ausdrücklich auf die soeben angeführte Glaubensfreiheit.

Im Widerspruch stehende Rechte

Die in Art. 4 GG geschützte individuelle Glaubensfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Daraus folgt, dass sich Eingriffe in die Glaubensfreiheit aus dem Grundgesetz selbst ergeben müssen. Das heißt, ein Eingriff in die Glaubensfreiheit kann zulässig und gerechtfertigt sein, wenn dies die Grundrechte Dritter oder andere Werte erfordern, die von der Verfassung geschützt werden. 

Nicht juristisch ausgedrückt: Auch hier gilt also im Grunde die altbewährte Annahme: Meine Freiheit hört da auf, wo die Freiheit der anderen beginnt.

Im Falle einer betroffenen Lehrerin kommt als im Widerspruch stehendes Grundrecht die negative Glaubensfreiheit der Schulkinder (Art. 4 GG) in Betracht. Diese schützt die Freiheit, einen religiösen Glauben gerade nicht zu haben und an religiösen Handlungen oder Äußerungsformen nicht teilnehmen zu müssen. Zusätzlich sind der staatliche Erziehungsauftrag (Art. 7 GG), der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulich religiöser Neutralität zu erfüllen ist sowie das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) zu beachten.

Im Falle einer betroffenen Richterin oder Staatsanwältin, also im Bereich der Justiz, steht der Verfassungswert der „Funktionsfähigkeit der Rechtspflege“ im Widerspruch zu der Glaubensfreiheit der Muslimin. Darüber hinaus nimmt die Verpflichtung des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität einen herausgehobenen Stellenwert ein.

Zweite Stufe: Umfassende Abwägung erforderlich.

Nach der Feststellung der im Widerspruch zueinander stehenden Interessen muss schließlich die Rechtfertigung des Eingriffs in die individuelle Glaubensfreiheit der Lehrerin oder Richterin geprüft werden. Maßgeblich ist an dieser Stelle, ob das Verbieten des Tragens eines Kopftuchs in bestimmten Situationen verhältnismäßig sein kann. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs hat dabei in einer umfassenden Abwägung aller in den vergangenen Absätzen aufgeführten Interessen stattzufinden. Entscheidend ist hierbei, mit welchem Gewicht die einzelnen Interessen in die Abwägung einzustellen sind. Daraus folgt im Ergebnis dann entweder der Vorrang des einen oder des anderen Rechts. 

Zugegebenermaßen: Ein schwieriges Unterfangen. Es liegt in der Natur der Sache, dass hierbei unterschiedliche Ansichten und Ergebnisse vertreten werden können – das macht es so schwierig.  Dies gilt umso mehr, als dass bei einem Kopftuchverbot für Lehrerinnen oder Richterinnen und Staatsanwältinnen Arbeitsbereiche betroffen sind, die im Verhältnis mit Dritten – also in der „Öffentlichkeit“ – stattfinden. Während ein Kopftuchverbot für die Richterin während der Vorbereitung einer Verhandlung in ihrem Einzelbüro also unverhältnismäßig wäre, sieht dies für das Tragen des Kopftuchs während der Verhandlung unter Umständen anders aus. Ähnliches gilt für eine Lehrerin, bei der zwischen der Unterrichtsvorbereitung und dem Auftreten vor den Schüler:innen differenziert werden muss. 

Teil 2: Ein Pro und Kontra

In Teil 2 über das „Kopftuchverbot“ soll das Für und Wider eines Kopftuchverbots für Lehrerinnen oder Richterinnen während des Unterrichts oder einer Gerichtsverhandlung betrachtet werden.

Der Diskussion vorangestellt sei erwähnt, dass sich Folgendes wie ein roter Faden durch die jeweiligen Argumente ziehen wird: Das Pro und Kontra eines Kopftuchverbots hängt wohl vor allem davon ab, aus welchem Blickwinkel man die Thematik betrachtet und aus welcher Sichtweise argumentiert wird. Befürworter:innen des Kopftuchverbots „identifizieren“ sich daher weniger mit der Sichtweise der betroffenen Musliminnen als die Gegner:innen des Verbots. 

Ein Kompromiss? Nur schwer vorstellbar.

Hier geht es zu Teil 2: Warum das Kopftuch (nicht) verboten gehört

Sokra 2022, https://sonjakrause-malerei.de/

Quellennachweise:
1 Bundesgesetzblatt Jahrgang 2021, Teil I Nr. 39, ausgegeben zu Bonn am 6. Juli 2021, Download: https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/text.xav?SID=&tf=xaver.component.Text_0&tocf=&qmf=&hlf=xaver.component.Hitlist_0&bk=bgbl&start=%2F%2F*%5B%40node_id%3D%27940407%27%5D&skin=pdf&tlevel=-2&nohist=1&sinst=8F7962A7, (Abrufdatum: 12.05.2022).
2 Zana Ramadani, in: Augsburger Allgemeine, 10.04.2017: abrufbar unter: https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Interview-Das-Kopftuch-ist-ein-Symbol-wie-wenn-Rechtsradikale-Springerstiefel-tragen-id41156581.html; zuletzt abgerufen am 12.05.2022; Seyran Ateş, Interview mit der Bundeszentrale für politische Bildung, Mai 2007: abrufbar unter: https://www.bpb.de/mediathek/video/2015/320/das-kopftuch-als-symbol-der-desintegration/, (Abrufdatum: 12.05.2022).
3 Forschungsbericht zur Studie “Muslimisches Leben in Deutschland 2020 (MLD 2020)”, S. 39 ff., 117, Download des Forschungsberichts hier möglich: https://www.bamf.de/SharedDocs/Dossiers/DE/jahresrueckblick-2021.html?cms_docId=896906, (Abrufdatum: 12.05.2022).

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3 comments
  1. Super Artikel! Tolle Darlegung verschiedener Argumente. Und dann stehen wir wieder vor der großen Frage, in was für einem Staat wir leben wollen.

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