Braucht Deutschland mehr Patriotismus?
Zum Geburtstag des Grundgesetzes am 23.Mai hat die CDU ein „Bundesprogramm Patriotismus“ gefordert, das nationale Symbole stärker im öffentlichen Raum platzieren soll.1 Viele fassten diesen Vorschlag kritisch auf. So reagierte die SPD vorsichtig, Grüne und Linke stellten sich gegen einen„Patriotismus per Dekret“2, der AfD ging der Antrag nicht weit genug und lediglich die FDP-Fraktion sah eine lohnende Debatte3. Diese Reaktionen kommen nicht überraschend, ist das Verhältnis der Deutschen zu Ihrer Nation doch nicht selten zwiegespalten. Während lokaler und regionaler Patriotismus sehr ausgeprägt gelebt werden, scheint die Identifikation mit der Bundesrepublik und damit einhergehend mit der eigenen Nationalität oft schwer zu fallen. Doch wie ist der Vorschlag der CDU zu bewerten und warum fällt es den Deutschen so schwer, Flagge zu zeigen?
Initiator des Antrags für mehr Patriotismus war Philipp Amthor, der darin die Chance sieht, eine polarisierte und fragmentierte Gesellschaft wieder zu vereinen. Damit adressiert er unbestritten eine enorme gesellschaftliche Herausforderung der aktuellen Zeit. Er fordert: „Wir dürfen die Nationalsymbole nicht den Rechtspopulisten überlassen. Ein offener und gesunder Patriotismus ist doch etwas, was sich viele Menschen wünschen.“4 Mit dieser Aussage scheint er tatsächlich recht zu haben. So zeigt beispielsweise eine Umfrage des Insa-Instituts aus dem Jahr 2021, dass sich 61 Prozent der Deutschen von den Schulen ihrer Kinder wünschen, einen „positiveren Bezug“ zu Deutschland fördern.5
Zentral für diesen Artikel ist die Begriffsdefinition von Patriotismus und dessen Abgrenzung vom Nationalismus. Beides bezieht sich auf eine besondere Identifikation und Wertschätzung der kulturellen sowie historischen Werte und Leistungen des eigenen Volkes.6 Die Unterschiede liegen jedoch in der Bewertung des Fremden, führt Ulrich Schmidt-Denter, Professor für Psychologie an der Universität Köln, aus: “Beim Patriotismus steht die Bindung an das ‘Eigene’ im Vordergrund und kann mit großer Offenheit gegenüber dem Fremden einhergehen. Beim Nationalismus zählt nur das eigene Land und alles Fremde wird abgewertet.”7 Dieser Definiton folgt auch Wilhelm Heitmeyer, ehemals Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Er sagt: „Der Patriot ist außerdem stolz auf die Demokratie und auf die sozialen Errungenschaften in seinem Land, ohne dass er das mit anderen Ländern vergleicht. Der Nationalist dagegen vergleicht sein Land immer mit anderen Nationen.”8
“Ich will nie ein Nationalist sein, aber ein Patriot wohl. Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet. Wir aber wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, in Europa und in der Welt.”
Johannes Rau in seiner Rede nach der Wahl zum Bundespräsidenten9
Ein Land mit schwerem Erbe
„Wer kann sich schon unreflektiert und ohne Hemmungen zur deutschen Nation bekennen?“, fragt dagegen Martin Sabrow, Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeitgeschichte in Potsdam und bezieht sich damit auf die Gräueltaten des NS-Regimes.6 Besonders aus dem linken Lager wird zudem immer die grundsätzliche Frage nach der Legitimität von Grenzen und Nationen laut. Stolz auf das eigene Land verbiete sich darüber hinaus alleine dadurch, dass zum Ort der Geburt ja keine eigene Leistung beigetragen wurde.
Des Weiteren könnte auch Deutschlands Historie als Staatenbund und einstiger “Flickenteppich” ein Grund für das fehlende nationale Zugehörigkeitsgefühl sein. Die “Deutschen” unterscheiden sich in ihrer Mentalität doch zentral voneinander und haben oft mehr Gemeinsamkeiten mit regional angrenzenden anderen Staaten, als mit ihren weit entfernten Landsmännern. So sind die Lebensweisen und Wertvorstellungen zwischen Norddeutschland, Bayern, dem Rhein- und Ruhrgebiet sowie Ostdeutschland doch recht unterschiedlich. Diese Heterogenität Deutschlands zeigt sich unter anderem in den verschiedenen Dialekten, unterschiedlichen regionalen Küchen, Traditionen und Bräuchen.
Alles gute Argumente und Gründe dafür, dass sich die Deutschen mit Nationalstolz schwertun. Das Ergebnis dieser Gedanken fasst Ulrich Schmidt-Denter, Professor für Psychologie an der Universität in Köln, zusammen: „Im Vergleich mit anderen Ländern ist die nationale Identität in Deutschland am schwächsten“.10 Doch wohin führt uns diese Zurückhaltung und ist es nicht vielleicht Zeit, diese negativen Gedanken hinter uns zu lassen?
Deutschland heute: tolerant und modern
Denn nicht zu verkennen ist: Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der ohne Zweifel für immer ein tief dunkles Kapitel der deutschen Geschichte bleiben wird, hat die neu gegründete Bundesrepublik viele Meilensteine erreicht, die die Menschen durchaus mit Stolz erfüllen könnten. Deutschland hat ein Grundgesetz geschaffen, das die Würde des Menschen sowie dessen freie Entfaltung schützt. Frauen- und Menschenrechte sowie Meinungs- und Pressefreiheit sind ebenfalls fest in seiner Verfassung verankert.11 Zudem hat sich die Bundesrepublik durch das Wirtschaftswunder zum Aufschwung verholfen und sich zu einem toleranten und multikulturellen Staat gewandelt, in dem verschiedenste Kulturen, Nationen und Religionen friedlich zusammenleben können. Auch homosexuelle Ehen sind legal und gesellschaftlich, wie viele weitere Lebensentwürfe, weitestgehend anerkannt. Mit Angela Merkel wurde Deutschland zudem als eines der ersten großen westlichen Länder lange Zeit von einer Frau regiert.
Dies sollen nur einige Beispiele sein, die zeigen, dass Deutschland – trotz allem vorhandenem Verbesserungspotenzial – sich zu einem modernen und weltoffenem Land entwickelt hat. Natürlich gilt es immer weiter für Klimaschutz, Gleichberechtigung und die Akzeptanz von Minderheiten einzustehen sowie der Politik stets bei neuen Entwicklungen Druck zu machen. Es ist aber genauso wichtig, regelmäßig innezuhalten und ehrlich festzustellen: So schlecht läuft es in Deutschland nicht. Und auch wenn wir zum Ort unserer Geburt tatsächlich nichts beitragen, sind diese Entwicklungen und Erfolge eng mit dem Wirken unserer Großeltern und Eltern verknüpft. Ebenso mit den Lehren, die die Menschen innerhalb dieser Grenzen aus der deutschen Geschichte gezogen und den Werten, die sie daraus gebildet haben. Nicht selbstverständlich ist die standfeste Demokratie, die seitdem in Deutschland unverrückbar integriert wurde – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern auf dieser Welt.
Stolz auf das Grundgesetz?
Genau auf diese demokratischen Errungenschaften zielt der Antrag von Philipp Amthor und der CDU ab. Es werden keine militärischen oder nationalistischen Symbole als Basis für mehr Patriotismus genannt, sondern vielmehr die Einheit und Demokratie in den Fokus gerückt. Das Grundgesetz sowie der Tag der deutschen Einheit sollen verbinden und einen „aufgeklärten und weltoffenen Patriotismus“ fördern, der sich von einem „fraglos unerwünschten Nationalismus“ abgrenzt: „Das Grundgesetz ist mit Blick auf die deutsche Verfassungsgeschichte ein herausragender Erfolg und nicht nur ein stabiles Fundament unseres freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates, sondern zugleich auch eine reichhaltige Quelle für gesellschaftlichen Zusammenhalt und für die innere Integration unseres Staates.“12 Die Flagge dient dabei lediglich als Symbol, dass die Identifikation mit diesen Werten und Erfolgen vereinfachen soll.
Die Nation zu einen, ist bei aller Dramatik des Ausdrucks ein zentrales politisches Ziel, welches große politische Bedeutung genießt. Welchen Schaden Polarisierung und Fragmentierung anrichten können, sehen wir beispielsweise durch einen Blick ins Ausland. In vielen Ländern Südamerikas oder den USA schwankt die Regierung oft zwischen rechts und links. Eine langfristige Handlungsfähigkeit der Regierung ist dort schlicht nicht möglich. Das zeigen die aktuellen Entwicklungen im südamerikanischen Chile recht anschaulich: Nach dem Sturz des Diktators Pinochet 1983 ringt das Land bis heute um eine neue Verfassung und kann sich auf keinen gesellschaftlichen Konsens einigen, der die Vorstellungen der Chilen:innen mehrheitlich widerspiegelt.13,14 Und dennoch haben chilenische Flaggen und nationaler Stolz als nach innen und außen gerichtete Zeichen der nationalen Identifikation eine ganz andere Präsenz in der Öffentlichkeit als hier zu Lande. Den Chilen:innen reichen vermeintlich weniger historische und gesellschaftliche Erfolge, um Stolz für ihre nationale Einheit zu verspüren.
Hierzulande führen Unzufriedenheit mit der Regierungsarbeit und fehlende Identifikation mit der Einheit der Nation aktuell zu einem Erstarken der politischen Ränder. Eine gemeinsame Basis und ein einheitliches Verständnis vom richtigen politischen Weg für die Bundesrepublik zu definieren, scheint schwieriger als je zuvor. Dies zeigen beispielsweise auch neueste Umfragen in Ostdeutschland15 und die kürzliche Wahl in Thüringen, die Robert Sesselmann zum ersten Landrat der rechtspopulistischen AfD macht16 – in einem Bundesland, dass wenige Jahre zuvor noch einen linken Ministerpräsidenten wählte.17
Schwarz, Rot, Gold: Einheit und Demokratie
In diesem Zusammenhang wird eine weitere Errungenschaft in Deutschland deutlich, die aktuell auf die Probe gestellt wird: Neben Einheit und Grundgesetz ist dies eine stabile und demokratische Regierung der politischen Mitte. Genau das ist es, wofür die Farben Schwarz, Rot und Gold stehen sollen. Historisch erwachsen aus den Freiheitskriegen 1815 waren diese Farben früh ein Zeichen der deutschen Einheit und wurden dann als Fahne der Weimarer Republik zum demokratisches Zeichen erhöht. Feinde der Republik und die Nationalsozialisten präferierten dagegen stets Schwarz, Weiß und Rot als deutsche Farben.18
Können wir uns also kollektiv auf diese ursprüngliche Bedeutung der deutschen Flagge besinnen und unseren Patriotismus tatsächlich auf Grundgesetz und Demokratie fußen, kann dies wirkliche eine verbindende Chance sein: Schwarz, Rot, Gold als Zeichen für Einheit, Demokratie, Vielfalt und Toleranz statt für Nationalismus, Ausgrenzung und rechtes Gedankengut. Denn: Eine Welt ohne Grenzen ist schlicht nicht möglich. Vielmehr ist es die Vielfalt von Kulturen und Nationen, die die Welt ausmachen. Zu dieser Vielfalt gehören auch die deutsche Kultur und die Geschichte, die die Bundesrepublik seit dem Zweiten Weltkrieg geschrieben hat – und darauf dürfen wir ruhig ein bisschen stolz sein.
1 https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-949986
3 https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-05/cdu-csu-bundesprogramm-patriotismus
5 https://www.dw.com/de/die-deutschen-und-ihr-patriotismus/a-65828015
7 https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17999/patriotismus/
8 https://www.sueddeutsche.de/politik/patriotismus-nationalismus-deutschland-1.4003006
9 https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Zitate/DE/Johannes-Rau/1999/05/19990523_Zitat3.html
11 https://www.bundestag.de/gg
12 https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-949986
13 https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/chile-verfassung-ablehnung-103.html
14 https://taz.de/Verfassungsrat-in-Chile-beginnt/!5936018/
16 https://www.tagesschau.de/inland/sesselmann-adf-sonneberg-landrat-100.html
17 https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/ministerpraesident-ramelow-wahl-landtag-100.html
https://www.sueddeutsche.de/politik/patriotismus-nationalismus-deutschland-1.4003006
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