Langes, offenes Haar, das frei und wild vom Wind verweht wird – in Deutschland keine Besonderheit, im Iran ein revolutionärer Akt, für den in den vergangenen Wochen und Monaten immer mehr Frauen ihren Mut finden. Entgegen der strengen Regeln der Islamischen Republik gehen immer mehr Menschen auf die Straße und protestieren gegen die Islamische Revolution von 1979.
“Jin, Jiyan, Azadi” schallt es durch weite Teile des Landes: “Frauen, Freiheit, Leben” skandieren die Demonstrierenden in 130 Städten1, die sich nach einer toleranten, fortschrittlichen Politik sehnen, die es im Land bereits gab. Doch das Land ist tief gespalten und viele Menschen stehen treu zum religiösen und konservativen Führer Ali Kamenei, dessen Macht ebenfalls auf einer Revolution im Land fußt. Ein Land am Scheidepunkt – mal wieder.
Revolution gegen die Revolution
Die letzte Revolution im Iran stürzte den damaligen Schar Mohammad Reza Pahlavi und endete mit der Gründung der “Islamischen Republik Iran”. Pahlavi folgte als Herrscher auf seinen Vater und war von 1941 bis 1979 an der Macht. In dieser Zeit sorgte er für die Sozialrechte jeden Bürgers, das Wahlrecht für Frauen sowie ein fortschrittliches Familienschutzgesetz, das Frauen vor allem bei Scheidungen besser stellen sollte. Doch seine engen Beziehungen zum Ausland, ein pompöser Lebensstil samt extravaganter 2.500-Jahr-Feier, eine selbstinszenierte Krönung zum “König der Könige” und die Auflösung aller oppositionellen Parteien 1965 sorgten für steigenden Unmut in der Bevölkerung. Auf diesem Nährboden begann die Islamische Revolution, aus der vor allem die Frauen des Landes als Verliererinnen hinausgehen sollten.2
Seit dieser Revolution ist das Land tief gespalten. Nur hoher, politischer Druck und eine Sittenpolizei können die Werte der Revolution durchsetzen. Doch während besonders Studierende und die Menschen aus den Städten protestieren, um ihren Wunsch nach einem fortschrittlichen und westlicheren Iran zum Ausdruck zu bringen, haben viele Iraner:innen in den ländlichen Gegenden sowie Beschäftigte innerhalb des Staatsapparats von der Revolution profitiert. Daher stehen sie loyal zum islamischen Regime um Staatsoberhaupt Ali Kamenei. So äußerte sich auch der Polizeipräsident von Teheran kurz nach dem Tod von Masha Amini wie folgt: “Diese Menschen wollen unsere Revolution schwächen.” Für Ali Kamenei sind die wahren Strippenzieher der Unruhen auch klar – die typischen Antagonisten der iranischen Revolution:
“Diese Unruhen wurden alle von Amerika und Israel geplant – und von den iranischen Verrätern im Ausland.”
Ali Kamenei bei einer Ansprache an das iranische Volk3
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Die Revolution der Frauen
Bei vielen anderen Menschen entlädt sich nach Masha Aminis Tod hingegen der ganze Frust über die strengen islamischen Regeln und das Vorgehen der Sittenpolizei, welches unter dem neuen und konservativen Präsident Raisi noch einmal verstärkt wurde. Besonders für viele Frauen schien das der berühmte letzte Tropfen gewesen zu sein, der ein brodelndes Fass zum Überlaufen brachte.
Dass nun starke Frauen im Iran die Revolution anführen, ist eine besondere Wendung der Geschichte. Diese Frauen, die so unter der Islamischen Revolution gelitten haben, Rechte abtreten mussten und fortan an strenge Kleidungs- und Verhaltensauflagen gebunden waren – sie sind es nun, die mit offenen Haaren für die Befreiung ihres Landes und für die Anerkennung ihrer Werte kämpfen. Gegen die religiös bestimmte und intolerante Politik der schiitischen Regierung und allen Hindernissen zum Trotz.
Auffallend sind die neue Intensität der Proteste sowie die Beteiligung nahezu aller gesellschaftlichen Schichten im Land. Selbst hohe schiitische Geistliche fordern Ali Kamenei und seine Regierung teilweise zum Handeln auf.4 So schreibt die iranische Journalistin und Autorin, Golineh Atai, für die Zeit5:
“Das Land hat in den vergangenen fünf Jahren Tausende von kleineren und größeren Protesten erlebt, ausgelöst durch Korruptionsskandale, Missmanagement und die Verarmung weiterer Schichten. Nun aber treten Frauen als Initiatorinnen auf, sie nehmen demonstrativ ihre Kopftücher ab, verbrennen sie triumphierend, tanzen um das Feuer. Niemand hätte sich träumen lassen, dass eine Frau in der Provinzstadt Kerman auf einen Stromverteilerkasten klettert und sich vor Tausenden Männern, die ihr zujubeln, die Haare abschneidet als Zeichen der Wut und Trauer. “
Golineh Atai
Europa, was tun?
Aus Europa und vielen westlichen Ländern erhalten die Frauen und Männer im Iran große Solidarität. Solidarität, die Kraft gibt – doch reicht das aus? Was können wir noch tun? Diese Frage ist schwer zu beantworten, haben doch internationale Interventionen selten zu einer Verbesserung der Situation im Land geführt. Man erinnere sich an die Revolutionen in Ägypten, Afghanistan oder dem Irak – allesamt Negativbeispiele für politische, vermeintlich demokratische Revolutionen in der Region des Nahen Ostens.
Aufgrund der Situation in der Ukraine, der Energieengpässe in Europa und den Lehren aus der Vergangenheit scheint eine militärische Intervention oder Unterstützung der Revolution als unwahrscheinlich. Die ersten diplomatischen Konsequenzen wurden hingegen bereits formuliert und in Kraft gesetzt.6 Diese sollen helfen, eine Veränderung von innen zu fördern und den Druck auf die Islamischen Führer der Republik zu erhöhen. Druck, der im Angesicht von immer mehr fragwürdigen Gerichts- und Todesurteilen gegen Demonstrierende sowie immer weiter ausufernder Waffengewalt mit mehr 16.000 Festnahmen und fast 400 Toten in zwei Monaten dringend nötig ist.7
Der Iran steht in Flammen und den Frauen im Land kommt eine Schlüsselrolle zu – sie gilt es zu schützen und zu unterstützen. Auch wenn die Iraner:innen – aufgrund der westlichen Lehren der Vergangenheit – den Kampf um ihre Zukunft weitestgehend alleine kämpfen müssen, sollte es die Verantwortung Europas sein, Menschenrechte zu schützen, weiterhin Solidarität zu zeigen und Staatsgewalt zu unterbinden. Gleichzeitig muss eine Lösung für langfristigen Frieden in einem gespaltenen Land gefunden werden, das so sehr von der stolzen, persischen Kultur geprägt ist und so viel mehr zu bieten hat als Terror, Hass und die islamische Unterdrückung von Menschenrechten.
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