WM in Katar

Katar: Fernseher an oder aus?

Sollten Privatpersonen die WM in Katar verfolgen oder boykottieren? Eine kritische Auseinandersetzung mit der Sinnhaftigkeit eines Boykotts.

Soll Ich die bevorstehende WM in Katar boykottieren? Eine Frage, die sich in Erwartung des größten Sportereignisses der Welt sowohl waschechte Fußballfans als auch Gelegenheitsgucker stellen. Zur Beantwortung ist wichtig, welchen inhaltlichen Punkt man setzt und was man von ihm als Wirkung erwartet. Ein Überblick.

2022 in Katar – Höhepunkt der Diskussion, aber historisch nicht allein

Die Geschichte der Fußballweltmeisterschaft der Männer und ihrer Austragungsorte ist reich an Skandalen und Kontroversen. 1978 fand sie in der Zeit der Militärdiktatur Argentiniens unter General Videla statt. Entführte Regimegegner wurden in Geheimgefängnissen gefangen gehalten, während teilweise wenige hundert Meter entfernt die Spiele in den Stadien stattfanden.1 Die Vergaben der Weltmeisterschaften 2006 nach Deutschland2, 2010 nach Südafrika und 2018 nach Russland stehen unter Korruptionsverdacht, teilweise ist dies sogar Gewissheit – US-Ermittlungen3 und Geständnisse ehemaliger FIFA-Offizieller, Zahlungen erhalten zu haben4, sorgten in den letzten Jahren für Schlagzeilen. Im Vorfeld der WM 2014 in Brasilien protestierten Massen gegen soziale Missstände und in diesem Kontext auch gegen die teure Ausrichtung des Turniers, für das umgerechnet mehr als zwei Milliarden Euro für die Stadioninfrastruktur ausgegeben wurden.5 Trotz allem ist die in ein paar Tagen beginnende Weltmeisterschaft in Katar die wahrscheinlich umstrittenste und kontroverseste. Viele Menschen stellen sich die Frage nach einem eigenen Boykott der Spiele. Das ana magazin gibt einen Überblick über die Umstände der Vergabe und der Situation im Land sowie drei Felder für Boykottbegründungen inklusive Pro- und Kontra-Argumenten diesbezüglich – vielleicht sogar eine Entscheidungshilfe für Unentschlossene.      

WM 2022 in Katar – Probleme in vielen Bereichen

Die Kritik an der Entscheidung, die WM dort stattfinden zu lassen ist mannigfaltig. Besonders Menschenrechtsdefizite unterschiedlicher Couleur stehen im Vordergrund. Doch auch der Entscheidungsprozess und seine Folgen stehen unter Beobachtung.

Ein zentraler Punkt sind die nicht vorhandenen Rechte für Frauen und Homosexuelle im Emirat. Homosexualität etwa ist strafbar, unter Umständen kann die Todesstrafe verhängt werden.6 Bundesinnenministerin Nancy Faeser gab zwar bekannt, dass Katar eine Sicherheitsgarantie für WM-Touristen aus der LBTQI+ -Community gegeben habe7, an der Situation für homosexuelle Kataris ändert dies allerdings nichts. Welche Auffassung der Staat und die Verantwortlichen für dieses Turnier vertreten, wurde erst vor Kurzem erneut deutlich: Der ehemalige katarische Fußballer und WM-Botschafter Khalid Salman bezeichnete Homosexualität in einer kürzlich erschienen Dokumentation als „geistigen Schaden“ und betonte, er habe ein Problem damit, wenn Kinder Schwule sähen.8 Als Reaktion forderte der deutsche Lesben- und Schwulenverband eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für queere Personen. 

Der zweite große Kritikpunkt sind die Rechte der Arbeitsmigranten. Im Mittelpunkt steht das in den arabischen Ländern weit verbreitete Kafala-System: Um ihrem im Verhältnis zur eigenen Bevölkerung großen Bedarf an Arbeitskraft Rechnung tragen zu können, benötigten die arabischen Golfstaaten wie Bahrain, Kuwait, Saudi-Arabien, die VAE und eben auch Katar eine Vorgehensweise zum Umgang mit Gastarbeitern – seit den 1970ern vor allem Menschen aus Südostasien. Gelöst wurde dies über einen sogenannten „Sponsor“ oder auch “Bürgen” genannt. Er verbürgt sich bei der Regierung für den jeweiligen Arbeiter und verpflichtet sich, ihn zu registrieren und unterzubringen. In der Theorie können dies Behörden und Privatpersonen sein, in den meisten Fällen ist es jedoch der Arbeitgeber. Dadurch ist eine große Machtungleichheit zwischen den bürgenden Arbeitgebern und Arbeitsmigranten entstanden. Die Unterbringung besteht häufig aus zu kleinen Räumlichkeiten für zu viele Menschen. Der Pass wird zum Zweck der Registrierung von den Arbeitgebern einbehalten. Dies hat zur Folge, dass die Arbeitsmigranten ihrem Arbeitgeber ausgeliefert sind und das Land, aufgrund ihres fehlenden Passes, nicht mehr verlassen können.

In den vergangenen Jahren fanden zwar Reformen statt, die Amnesty International zufolge „zu einigen merklichen Verbesserungen“11 geführt haben, jedoch blieb die Umsetzung mangelhaft und Probleme wie ausbleibende Lohnzahlungen bestehen weiterhin. Formal wurde das Kafala-System mittlerweile abgeschafft, „besteht in seinen Grundfesten aber weiter“ wie Regina Spöttl von Amnesty konstatiert.12 2020 führte Katar einen Mindestlohn ein. Dieser liegt für Arbeitsmigranten bei umgerechnet 230 Euro, was angesichts hoher Lebenshaltungskosten im Emirat kaum als ausreichend anzusehen ist. 13

Dies ist kein WM-spezifischer Umstand, allerdings stellte der Bau der Stadien ein Großprojekt dar, für dessen Bewältigung Arbeitsmigranten eingesetzt wurden. Über die Todeszahlen auf den WM-Baustellen gibt es keine verlässlichen Angaben. Das WM-Organisationskomitee spricht von drei Toten bei Unfällen.14 In vielen Medien kursierte dagegen die Zahl von 6500 Toten.15 Diese geht auf einen Artikel des britischen Guardian zurück. Dort wird die Zahl aller in Katar verstorbenen Gastarbeiter zwischen 2011 und 2019 angegeben – egal ob diese auf WM-Baustellen arbeiteten, auf anderen Baustellen oder in gänzlich anderen Bereichen.16 Die Zahl der WM-Offiziellen hingegen schließt nicht einmal Personen ein, die auf ihrer Arbeitsstelle das Bewusstsein verloren und anschließend im Krankenhaus starben. Sie werden als „non work related“17 bezeichnet.

Auch die Umstände der Vergabe stehen seit ihrer Verkündung Ende Dezember 2010 in der Kritik. Die normalerweise einzeln stattfindende Vergabe der Weltmeisterschaften wurde im Vorfeld ohne erkennbaren Grund für die Turniere 2018 und 2022 zusammengelegt. Katar gewann gegen den ärgsten Mitbewerber – die USA – in der letzten Abstimmungsrunde mit 14 zu 8 Stimmen. Der Zuschlag ging an den Wüstenstaat, obwohl es laut FIFA-interner Prüfung die schlechteste der auf dem Tisch liegenden Bewerbungen war.18 Im Vorfeld der Wahl wurden zwei der 24 Exekutivmitglieder suspendiert. Bis heute sind die Umstände der Vergabe nicht vollständig geklärt, dubiose Geschichten in ihrem Kontext gibt es aber zuhauf. So berichtet der damalige FIFA-Präsident Sepp Blatter von einem Treffen zwischen dem damaligen Kronprinzen und heutigen Emir von Katar, Tamim bin Hamad al Thani, dem damaligen UEFA-Präsidenten Michel Platini und dem damaligen französischen Präsidenten Nikolas Sarkozy. Frankreich schloss nach der Vergabe mehrere lukrative Geschäfte mit Katar ab. Blatter betont: „Die Quintessenz war, dass ich nicht mehr auf vier Stimmen aus Europa für die USA zählen konnte“19. Die US-Justiz geht davon aus, dass drei südamerikanische Exekutivmitglieder im Vorfeld der Vergabe bestochen wurden20 und der heutige FIFA-Präsident Gianni Infantino, seit 2016 im Amt, verlegte seinen Wohnsitz zumindest teilweise Ende 2021 nach Katar.21 Auch, dass die Weltmeisterschaft eigentlich wie üblich für den Sommer geplant war und wegen der zu hohen Temperaturen Katars erstmals in ihrer Geschichte auf den Winter verlegt wurde, stellt ein weiteres Kuriosum um die WM dar.

Der individuelle Boykott: Muss Ich? Wirke Ich? Sollte Ich überhaupt?

Darüber, dass die Vergabe der WM an Katar nicht hätte passieren sollen, herrscht unter nahezu allen Sportjournalist:innen, Spielern, Verantwortlichen und Fans Einigkeit. Auch Sepp Blatter erklärte in einem Interview mit der Schweizer Tageszeitung Tribune de Genève kürzlich, dass die Vergabe „ein Fehler“22 gewesen sei. Darüber, wie mit ihr als Gesellschaft nun umzugehen ist, wurde in den letzten Jahren, Monaten und besonders Wochen reichlich diskutiert. Noch am letzten Bundesligaspieltag vor dem Turnier forderten Fans in mehreren Stadien „Boycott Quatar“23. Es gilt abzuwägen, wie sinnvoll ein Boykott gerade als Einzelperson ist. In der öffentlichen Diskussion existieren vor allem drei Begründungen für einen Boykott beziehungsweise Boykottformen. Wie plausibel sind diese und welche Folgen haben sie?

Die erste sich aufdrängende Frage bezüglich der bewussten Entscheidung, die Weltmeisterschaft zu meiden ist, welche Folgen und welchen Nutzen es haben könnte. Zweifelsfrei hat der Boykott einer Einzelperson isoliert betrachtet zunächst keine große Wirkung. Von Befürwortenden wird allerdings die Möglichkeit eines Summeneffekts angeführt. Dies bedeutet, dass durch eine hohe Zahl individueller Boykotte die Gesamtzahl der Zuschauenden merklich sinkt. Ein geringeres Interesse an der WM soll der FIFA und dem Gastgeberland finanziell schaden. Dem entgegen steht, dass die FIFA die Übertragungsrechte bereits fest veräußert hat, unabhängig von der Einschaltquote. In Deutschland sind die übertragenden Sender die ARD, das ZDF sowie Magenta TV. Für insgesamt 48 der 64 Spiele24 belaufen sich die Kosten für die öffentlich-rechtlichen Sender Berichten zufolge auf 214 Millionen Euro.25 Der Preis für das Rechtepaket von Magenta TV, welches alle Partien überträgt, ist nicht bekannt. 

Unmittelbar schaden würde eine niedrigere Quote zumindest finanziell weder der FIFA, die ihre Einnahmen bereits gesichert hat, noch den öffentlich-rechtlichen Sendern, deren Finanzierung durch den Rundfunkbeitrag gedeckt ist. Werbeeinnahmen, die von Quoten abhängig sind, sind dort stark eingegrenzt. Magenta TV ist somit der einzige der drei an den Übertragungsrechten beteiligten Partner, der sich stärker durch Werbeeinnahmen finanziert und dem eine geringer ausfallende Zuschauerschaft kurzfristig etwas anhaben könnte. Katar selbst profitiert von den TV-Rechten in finanzieller Hinsicht nicht, da sie durch die FIFA vergeben und verkauft werden. Generell sind Weltmeisterschaften für die Gastgeberländer in der jüngeren Vergangenheit nicht lohnend gewesen. Sowohl Südafrika (2010)26  und Brasilien (2014)27 als auch Russland (2018)28 generierten durch die Austragung keinen Gewinn, sondern machten finanziellen Verlust. 

Einstellen könnte sich jedoch ein mittelfristiger Effekt: Durch sinkende Zuschauerzahlen bei dieser Weltmeisterschaft könnte die FIFA in eine schlechtere Verhandlungsposition kommen, welche sich auf die Einkünfte der Übertragungsrechte der nächsten Weltmeisterschaften auswirken könnte. Dem könnte entgegen sprechen, dass sinkende Zuschauerzahlen für die      WM 2022 eindeutig auf die erwähnten Umstände zurückzuführen sein könnten, wodurch sich keine geringeren Zahlen für das Turnier in den USA, Kanada und Mexiko 2026 ableiten ließen.

Bald an moralischeren Orten?

Eine weitere Hoffnung für Auswirkungen eines Boykotts ist die Motivation, die Vergabe an Länder mit vergleichbaren Hintergründen zu verhindern. Die Argumentation dahinter: Durch geringeres Interesse an der Weltmeisterschaft und öffentlichen Druck für die Einhaltung von Menschenrechten erleidet die FIFA einen Bedeutungsverlust ihres Turniers, wenn es in Ländern mit fragwürdiger Menschenrechtslage stattfindet. Daraufhin wird die Weltmeisterschaft auch nach Menschenrechtskriterien vergeben. Entgegengehalten wird, dass dies ohnehin bereits geschehen sei. Im Mai 2017 verabschiedete die FIFA eine eigene Erklärung zur Menschenrechtspolitik inklusive dem Bekenntnis, alle ihre zukünftigen Aktivitäten – die Vergabe der Weltmeisterschaft eingeschlossen – an diesen Kriterien auszurichten.29 DFB-Präsident Bernd Neuendorf ist daher der Ansicht, dass dies „zeigt, dass die Vergabe an Katar und vielleicht auch an Russland heute schwer vorstellbar wäre, so unkritisch und ohne Auflagen. Das hat sich geändert, der Sport und die Politik.“30. Wie strikt sich die FIFA an ihre eigenen gefassten Grundsätze in Zukunft halten wird, ist offen. 

Die Motivation eines Landes wie Katar, eine WM auszurichten, liegt wie beschrieben nicht im Finanziellen. Der Islam- und Kommunikationswissenschaftler Dr. Sebastian Sons von der FU Berlin beschreibt das Ziel, welches Katar mit ihr verfolgt so: „Die Weltmeisterschaft ist für Katar aus internationalen Reputationsgründen wichtig und auch aus sicherheitspolitischen Gründen. Man ist eingequetscht zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. In Katar hat man immer Angst, dass man zwischen diesen Schwergewichten zerrieben wird und besetzt oder bedroht wird“31. Durch die WM liege die internationale Aufmerksamkeit auf dem Land, die es beschütze. Außerdem probiere man, sich weiter an den Westen zu binden, da man wisse, dass die eigenen fossilen Rohstoffe endlich sind und versuche damit gute Beziehungen und Partnerschaften aufzubauen.      

Öffentlichkeit spielt somit für Katar die zentrale Rolle bei dieser WM. Zum einen zum     Schutz, andererseits für ein positiveres Image – die Weltmeisterschaft als Bühne. Boykottbefürwortende argumentieren, einem Land welches solche Menschenrechtsstandards aufweist, gehöre so eine Bühne nicht. Individuell trägt ein Boykott somit dazu bei, die bespielte Fläche zu verkleinern und kein Teil der Inszenierung für die politischen Zwecke des Emirats zu sein.

Austragung als Eigentor?

Ob die Öffentlichkeit bisher zu einem Imagegewinn für Katar beigetragen hat, darf allerdings bezweifelt werden. Katar steht seit der Vergabe zwar im öffentlichen Fokus, allerdings selten positiv. Stattdessen prägen Berichte über die Arbeitsbedingungen, Korruption und fehlende Menschenrechte das mediale Bild. Kaum eine Berichterstattung im Vorfeld kommt ohne negative Publicity aus. Dies hat auch Katar registriert. Scheich Emir Al-Thani sprach im Vorfeld der WM von „einer beispiellosen Kampagne“, die „Erfundenes und Doppelmoral einschließt“, nachdem man „Teile der Kritik zunächst in gutem Glauben sogar als positiv und nützlich erachtet“ habe, um „Aspekte […] zu entwickeln, die entwickelt werden müssen“32. Dass sich die politische Situation der Arbeitsmigranten seit der Vergabe verbessert hat – auch wenn sie noch weit entfernt von westlichen Standards liegt – geschah wohl unter anderem durch die Aufmerksamkeit und den öffentlichen Druck, den es ohne die WM nie gegeben hätte. 

Diese negative Öffentlichkeit könnte sich auch auf das Turnier übertragen, in dem Mannschaften, Verbände und Offizielle die Bühne für Botschaften für Menschenrechte nutzen, um somit nicht nur das Vorfeld, sondern auch die Spiele an sich für Katar zu negativer Publicity werden zu lassen. Sollte dies der Fall sein, könnte argumentiert werden, dass auch ein individueller Boykott ebenfalls durch einen Summeneffekt in das Gegenteil ausschlägt: Statt mehr Aufmerksamkeit für Menschenrechte und der Entziehung einer Imagepflege für Katar könnte es eher zu weniger Aufmerksamkeit für die Menschenrechtsthemen in der Regionen kommen. Insbesondere, wenn ein Boykott der WM auch individuell bewusst oder unbewusst einhergeht mit weniger Berührung mit Menschenrechtsthemen in Katar, da man alles, was mit dem Thema zu tun hat ignoriert und auch nicht am Rande im Kontext der Übertragungen sich mit ihnen beschäftigt. In diese Richtung argumentiert etwa der ehemalige Fußballprofi von Mainz 05 und Borussia Dortmund sowie WM-Teilnehmer 2010 für Serbien, Neven Subotić.33

Dagegen wird von Boykottbefürwortenden wie dem Journalisten Benjamin Best argumentiert, dass Sportevents in ihrer Geschichte nie zu langfristig anhaltenden Verbesserungen in einem Land geführt haben und somit die Öffentlichkeit und der Kontakt, der durch die Weltmeisterschaft komme, nicht von Dauer und somit kein Gegenargument gegen einen Boykott sei.34 Die politische Lage in den Austragungsländern von großen Sportveranstaltungen in der jüngeren Vergangenheit unterstützt diese These. Russland veranstaltete 2018 die letzte WM und überfiel Anfang 2022 die Ukraine. China richtete die Olympischen Winterspiele ebenfalls Anfang 2022 aus. Von einer positiven Veränderung etwa der Taiwan-Politik fehlt jedoch jede Spur.

Gekontert werden kann, dass man im Falle von Katar, durch deren geopolitisches Interesse, sich dem Westen zuzuwenden, vorsichtig sein müsse, dem Land zu stark vor den Kopf zu stoßen. Denn: Integriert man Katar als Partner, hat man einen Hebel, Druck auszuüben und somit die Menschenrechte nachhaltig zu verbessern. Als Gefahr droht sonst, dass das Emirat sich in seiner isolierten Lage China zuwendet, wo Menschenrechte ebenfalls geringe Priorität genießen.

Erschwertes Engagement

Außerdem stellt sich die Frage, wie realistisch das „Kapern“ der katarischen WM-Bühne sein kann. Viele Verbände kündigten kleinere Aktionen bereits an: Deutschland und andere Nationen treten bei der WM mit einer „One Love“-Kapitänsbinde an, zudem kündigte Kapitän Manuel Neuer darüber hinaus gehendes Engagement an.35 Die australische Nationalmannschaft veröffentlichte Ende Oktober ein Video mit 16 ihrer Spieler, in denen sie sich für Menschenrechte aussprach und Katar kritisierte.36 Der dänische Fußballverband kündigte in Zusammenarbeit mit seinem Ausrüster Hummel an, bei der WM auf ihren roten und weißen Trikots das Verbandslogo und das Logo des Ausrüsters in derselben Farbe zu gestalten um „nicht sichtbar“ zu sein „bei einem Turnier, das Tausende Menschen das Leben gekostet hat“37. Außerdem wird es die gleiche Ausgabe auch in schwarz als drittes Trikot als „wandelnder Trauerflor“ geben. Teile der Einnahmen wird Hummel an Amnesty International spenden.38 Verboten wurde dem dänischen Verband jedoch, beim Aufwärmen im Stadion Trainingsshirts mit der Aufschrift „Menschenrechte für Alle“ zu tragen, mit dem Verweis darauf, dass politische Botschaften verboten seien.39 Kurz zuvor wurde ein Schreiben des FIFA-Präsidenten Gianni Infantino öffentlich, in dem dieser zu einer unpolitischen WM auffordert. Genauer dazu, es nicht zuzulassen, „dass der Fußball in jeden ideologischen oder politischen Kampf hineingezogen wird, den es gibt“40. Der englische Nationaltrainer Gareth Southgate betonte jedoch, man solle Verantwortung übernehmen und auf Missstände hinweisen.41

Es gibt also Grund anzunehmen, dass Verbände und Verantwortliche der Mannschaften dazu bereit sind, das Thema immer wieder anzusprechen und es somit sowohl in den Stadien selbst als auch in der Berichterstattung während der Spiele präsent zu halten. Wie viel davon letztlich am Ende unter dem Druck der FIFA umgesetzt werden kann, lässt sich noch nicht beantworten.

Bei der individuellen Entscheidung, ob man die Weltmeisterschaft boykottieren möchte oder nicht, steht unabhängig von mitverantwortlichen Folgen die Frage im Vordergrund: Kann ich es mit mir in Einklang bringen, ein Turnier zu verfolgen, bei dem ich mir bewusst bin, dass es unter Menschenrechtsverletzungen und Korruption zustande kam? Die Verantwortung vor sich selbst, mit sich im Reinen zu sein, besteht. Weitergehend kann diskutiert werden, ob es eine generelle moralische Pflicht gibt, sich nicht mit einer Veranstaltung, die unter den vorhandenen Umständen zustande kam, gemein zu machen. Darüber hinaus ist wichtig, ob ihr reiner Konsum als ebendas definiert wird. Dagegen kann argumentiert werden, dass sowohl die Kraft und Macht die Vergabe und Menschenrechte im Allgemeinen anzugehen bei FIFA beziehungsweise bei der Politik liegt. Eine Pflicht, die WM zu boykottieren, kann als Abwälzung der Verfehlungen auf die Endkonsumenten ausgelegt werden, die zur Abwägung eigener moralischer Grundsätze und einem für sie wichtigen Hobby gezwungen werden.

Eine Leitplanke für eine solche Entscheidung können Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sein. Das Bild hier ist allerdings ebenfalls nicht eindeutig. Offizielle von den beiden bekanntesten NGOs aus dem Bereich Menschenrecht – Human Rights Watch42,43 und Amnesty International – zweifeln an dem Mittel des Boykotts oder lehnen ihn sogar ab. Teilweise mit der Begründung, die durch die WM gestiegene Aufmerksamkeit für das Thema Menschenrechte im arabischen Raum würde sinken und somit eventuell nur denen nutzen, die gegen bessere Bedingungen für Arbeitsmigranten seien. Andere, vor allem lokale Organisationen wie das Nürnberger Menschenrechtszentrum45 und viele Aktivist:innen rufen hingegen zu dieser Maßnahme auf.

Also: Was tun?

Die Entscheidung zu boykottieren ist eine ohne pauschalem Richtig oder Falsch. Vor allem ist sie eine Entscheidung, worauf der eigene Fokus liegt. 

Will ich auf die FIFA einwirken? Dann kommt es darauf an, ab wann man sich als das wahrnimmt. Dass ein nennenswerter direkter Effekt von einem Boykott ausgehen könnte, erscheint unwahrscheinlich. Ein kleiner Beitrag könnte aber vor allem perspektivisch geleistet werden. 

Will ich die Menschenrechte fördern? Dann ist die Frage, ob man glaubt, dass die begangenen Reformen nachhaltig sein können und mehr durch eine Einbettung Katars erreicht wird. Oder vermutet man hinter einem klaren eigenen Statement mehr Wirkungsmacht?

Will ich mich nach meinen eigenen Maßstäben moralisch verhalten? Dann ist der Kern, ob man vor sich selbst im Reinen ist, wenn man die Spiele schaut und ob und wenn ja welcher Instanz man Bedeutung in ihrem Urteil zumisst.

Einige Aspekte werden sich erst im Laufe des Turniers oder weit danach zeigen können. Ein alternativer Weg, mit der WM umzugehen, könnten daher sein, keine offiziellen FIFA-Produkte zu kaufen. Ein anderer, für die Berichterstattung rund um die WM, bevorzugt Online-Medien zu konsumieren, die eigene Einnahmen an Hilfsfonds für die Hinterbliebenen der verstorbenen Arbeitsmigranten spenden. Und wieder ein anderer könnte sein, bei einer Entscheidung für oder gegen einen Boykott, sich selbst bewusst weiterhin über die Umstände in Katar zu informieren und aktiv durch Spenden und politische Aktionen wie Demonstrationen zu sein, um das Thema weiterhin relevant zu halten und öffentlichen Druck beizubehalten. 

So oder so: Begründungen gibt es für alle Wege und eine individuelle Entscheidung bleibt das, was sie ist: Individuell.

WM in Katar
Sokra, 2022: https://sonjakrause-malerei.de/

1 Sportschau: https://www.youtube.com/watch?v=pcNAisWsPSk

2 Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/sommermaerchen-affaere-sicher-ist-dass-korruption-100.html

3 Spiegel: https://www.spiegel.de/sport/fussball/fifa-wm-2010-2018-und-2022-laut-us-justiz-gekauft-a-0f9ade23-7c45-4301-8491-f5109289b47a

4 FAZ: https://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/wm-1998-und-2010-ex-fifa-funktionaer-blazer-gesteht-korruption-bei-wm-1998-und-2010-13628556.html

5 eutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/die-stadien-der-fussball-wm-2014-teuer-schlecht-genutzt-und-100.html#:~:text=Teuer%2C%20schlecht%20genutzt%20%E2%80%93%20und%20Teil,mehr%20als%20zwei%20Milliarden%20Euro.

6 Lesben- und Schwulenverband Deutschland: https://www.lsvd.de/de/ct/1245-LGBT-Rechte-weltweit

7 Sportschau: https://www.sportschau.de/newsticker/dpa-faeser-und-dfb-boss-neuendorf-beim-wm-organisationskomitee-102.html

8 https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzeit/zdfzeit-geheimsache-katar-100.html

9 https://www.lsvd.de/de/ct/8039-Katar-WM-Botschafter-bezeichnet-Homosexualitaet-als-geistigen-Schaden

10 https://www.cfr.org/backgrounder/what-kafala-system#chapter-title-0-3

11 https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/katar-wm-2022-lueckenhafte-arbeitsrechtsreform-fehlende-entschaedigungszahlungen

12 Deutsche Welle: https://www.dw.com/de/amnesty-lobt-und-tadelt-katar/a-55644633

13 Spiegel: https://www.spiegel.de/wirtschaft/katar-fuehrt-mindestlohn-ein-230-euro-im-monat-a-fee2786c-b51e-4010-9e72-8ee91c914ea7

14 ZDF: https://www.zdf.de/nachrichten/sport/tote-bauarbeiter-fussball-wm-katar-2022-100.html#:~:text=Auf%20den%20Stadionbaustellen%20im%20WM,der%20Deutschen%20Presse%2DAgentur%20best%C3%A4tigt.

15 Guardian: https://www.theguardian.com/global-development/2021/feb/23/revealed-migrant-worker-deaths-qatar-fifa-world-cup-2022

16  Redaktionsnetzwerk Deutschland: https://www.rnd.de/sport/fussball-wm-in-katar-tote-bei-bauarbeiten-wieso-weichen-die-offiziellen-fifa-angaben-ab-IEVVUP6ZERC45JTSL6CXCZXBHM.html

17 ebd.

18  Zeit: https://www.zeit.de/sport/2014-11/fifa-garcia-eckert-blatter-korruption

19  Zitiert nach Rheinischer Post: https://rp-online.de/sport/fussball/wm/wm-wie-die-fussball-weltmeisterschaft-nach-katar-kam_aid-79860779

20 https://www.spiegel.de/sport/fussball/fifa-wm-2010-2018-und-2022-laut-us-justiz-gekauft-a-0f9ade23-7c45-4301-8491-f5109289b47a

21 Sportschau: https://www.sportschau.de/newsticker/dpa-fifa-boss-infantino-wohnt-nun-in-wm-gastgeberstadt-doha-story-sp-100.html

22 Welt: https://www.welt.de/sport/fussball/wm/plus242040813/Fussball-WM-2022-Sepp-Blatter-Entscheidung-fuer-Katar-ein-Fehler.html

23 https://www.deutschlandfunk.de/fan-proteste-in-der-bundesliga-104.html

24 Kicker: https://www.kicker.de/wer-uebertraegt-die-wm-spiele-2022-die-tv-rechte-im-ueberblick-896445/artikel#:~:text=Die%20Deutsche%20Telekom%20hat%20sich,aber%20auch%20im%20Free%2DTV.&text=Wer%20alle%2064%20Spiele%20bei,Rechte%20f%C3%BCr%20alle%20Partien%20gesichert.

25 Spiegel: https://www.spiegel.de/spiegel/vorab/fussball-wm-ard-und-zdf-zahlen-mehr-fuer-uebertragung-a-1014576.html

26 https://www.spiegel.de/wirtschaft/wenig-besucher-suedafrika-macht-riesenverlust-mit-fussball-wm-a-733961.html

27  https://www.tagesspiegel.de/sport/fifa-mit-rekordgewinn-brasilien-geht-leer-aus-3576352.html

28 https://www.ispo.com/trends/das-millionengeschaeft-mit-der-wm-2018-fifa-sponsoren-verbaende

29 https://www.humanrights.ch/cms/upload/pdf/2018/180416_fifashumanrightspolicy_neutral.pdf

30 Sportschau: https://www.sportschau.de/fussball/fifa-wm-2022/neuendorf-fifa-menschenrechte-100.html

31 Rocketbeans: https://www.youtube.com/watch?v=Kot85PIFgjc&t=3543s

32 Deutsche Welle: https://www.dw.com/de/emir-al-thani-sieht-wm-kritik-an-katar-als-beispiellose-kampagne/a-63552741

33  ZDF: https://www.youtube.com/watch?v=fDg1HMWaqfc

34 ebd.

35 https://www.eurosport.de/fussball/wm/2022/deutsche-fussball-nationalmannschaft-will-in-katar-neben-one-love-binde-weitere-zeichen-setzen_sto9224599/story.shtml

36  https://twitter.com/thepfa/status/1585360307102552064

37 https://www.sportschau.de/fussball/fifa-wm-2022/katar-wm-daenemark-setzt-zeichen-mit-schwarzen-trikots-100.html#:~:text=Die%20d%C3%A4nische%20Fu%C3%9Fball%2DNationalmannschaft%20will,und%20die%20dortigen%20Menschenrechtsverletzungen%20setzen.

38 ebd.

39 https://www.zeit.de/sport/2022-11/fussball-wm-katar-daenemark-menschenrechte-trikot

40 https://www.kicker.de/nach-infantino-brief-southgate-ermuntert-eigene-spieler-924395/artikel

41 ebd.

42  https://www.zeit.de/news/2021-11/07/human-rights-watch-mehr-druck-von-dfbund-fifa-auf-katar

43 https://www.deutschlandfunkkultur.de/human-rights-watch-kein-boykott-der-fussball-wm-in-katar-100.html

44 https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/katar-wm-2022-flutlicht-menschenrechte-arbeitsmigranten-dfb

45 https://www.boycott-qatar.de/unterstuetzer/

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