Die EU: (k)ein Maßstab für demokratisches Bauen

Demokratie als Leitprinzip der EU umfasst auch demokratisches Bauen. Aber hält das Paul-Henri-Spaak-Gebäude, Dienstort des EU-Parlaments in Brüssel, diesem Maßstab stand? Eine kritische Auseinandersetzung.

Brüsseler Europaviertel – wirklich demokratisch?

12,39 %. Das ist der Anteil der Stimmen, den die rechtsextreme VOX-Partei in Spanien in den vorgezogenen Parlamentswahlen Ende Juli 2023 erzielt hat.1 Doch nicht nur in Spanien werden antieuropäische Stimmen lauter. Der Vormarsch der AfD in Deutschland seit 20132, die Popularität Marine Le Pens in Frankreich3 sowie die den Rechtsstaat aushebelnden Regierungen in Ungarn4 und Polen5 sind Zeichen dafür, dass in Europa allseits ein rauerer, nationalistischerer Wind weht. 

Es stellt sich die Frage, welche Auswirkungen diese Bewegungen auf das Klima der Europäischen Union (EU) haben werden – eine Staatengemeinschaft, zu deren Werten neben der Würde des Menschen auch seine Freiheit und Gleichstellung sowie die Einhaltung der Grundrechte gehören. Darüber hinaus genießt das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und das der Demokratie größte Priorität.

Das politische Ordnungsprinzip ‘Demokratie’ als vom Volk ausgehende Herrschaftsgewalt7 beschränkt sich dabei nicht allein auf die Auswahl von Amts- und Würdenträger:innen in rechtsstaatlichen Wahlen, sondern sondern beinhaltet auch das Recht, die öffentlichen Institutionen mitzugestalten. Von Demokratie wird auch der Anspruch erfasst, sich durch diese öffentlichen Institutionen repräsentiert zu fühlen.8

Teil 1: Das Paul-Henri-Spaak-Gebäude

Ob die Europäische Union ihren eigenen Prinzipien in architektonischer Hinsicht treu bleibt, sprich: ob sie ihre Verwaltungs- und Dienstgebäude nach demokratischen Prinzipien hat wachsen lassen, soll eine kritische Auseinandersetzung in zwei Teilen zeigen.

Dieser erste Teil befasst sich mit dem Tagungsort des Europäischen Parlaments, dem Paul-Henri-Spaak-Gebäude in Brüssel – eines von sechs Bauwerken des Espace Léopold Komplex, der den Dienstort des Europäischen Parlaments in Brüssel umfasst. Erhaben thront der im postmodernen Stil errichtete Bau hinter den fünf anderen und mündet in den Parc Léopold. Der Beitrag befasst sich mit der sog. ‘Brüsselisierung’ der 1960er bis 1980er Jahre, den architektonischen Prinzipien demokratischen Bauens sowie einem Blick in die Zukunft: Wie kann demokratisches Bauen zukünftig realisiert werden?

Paul-Henri Spaak war während des Zweiten Weltkriegs belgischer Außenminister und später Ministerpräsident. 1944 beteiligte er sich maßgeblich an der Verwirklichung des Plans zur Benelux-Union, welcher eine Zollunion zwischen Belgien, den Niederlanden und Luxemburg vorsah. 1946 wurde er zum Präsidenten der ersten Vollversammlung der Vereinten Nationen (NATO) ernannt, um zwischen 1957 und 1961 schließlich das Amt des NATO-Generalsekretärs anzunehmen. Dabei war er eine federführende Hand bei der Ausarbeitung der sogenannten „Römischen Verträge“. Diese Verträge umfassen neben dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) auch den Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG oder Euroatom)9.

Abbildung 1: Paul-Henri-Spaak-Gebäude © European Union

Die Aspekte demokratischen Bauens

Demokratisch Bauen? Demokratische Architektur? Anders als der Begriff der ‘Demokratie’, gibt es für demokratisches Bauen oder demokratische Architektur keine feste Definition. Vielmehr sind die Leitsätze und Grundprinzipien der Demokratie auf das Feld der Architektur zu übertragen.10 Hieraus ergeben sich folgende Kriterien und Aspekte, an denen das Paul-Henri-Spaak-Gebäude zu messen ist:

  • Vermittlung von Transparenz: Zugänglichkeit und Offenheit durch die architektonische Formensprache.
  • Zugänglichkeit: durch öffentliche Bereiche
  • Nachhaltigkeit: Verbauen von nachhaltigen Materialien; energieeffizienter Betrieb des Gebäudes; Auswahl von nachhaltigen Konstruktionsverfahren.
  • Repräsentation des Volkes: Architektur, durch die sich Bürger:innen repräsentiert fühlen, unterstützt durch eine Integration des Gebäudes in die städtebauliche Umgebung.
  • Demokratische Vergabe des Bauauftrags.

Paradebeispiel einer postmodernen Architektur

Betrachtet man das Paul-Henri-Spaak-Gebäude mit seinen zahlreichen eklektischen Elementen deutet viel darauf hin, dass sich das Paul-Henri-Spaak-Gebäude in die Stilrichtung der postmodernen Architektur einordnen lässt.

Die Grundidee der postmodernen Architektur entstand etwa um 1968 in den USA und fand in den späten 1970er bis -80er Jahren ihren Weg nach Europa. Sich in erster Linie als Abgrenzung zum vorangegangenen Architekturstil der Moderne verstehend, brachte sie rational und nüchtern wirkende Bauten hervor.11

Durchbrochen wird diese augenscheinliche Rationalität, indem Häuserfassaden durch die Verwendung eklektischer Merkmale zu Bedeutungsträgern avancieren. Insbesondere antike beziehungsweise klassizistische Architekturelemente werden in abstrahierter Form eingesetzt. Aber auch Stile anderer Epochen werden zitiert. Hierbei werden in der Regel nur einzelne Motive aufgegriffen und mit denen anderer Stilrichtungen kombiniert, sodass ein Zusammenwirken verschiedener Materialien, Formen und Farben entsteht. In der Absicht, eine Neugier weckende Architektur zum Anfassen zu schaffen, stehen sowohl die Gegenüberstellung von Symmetrie und Asymmetrie als auch das Spiel mit Licht und Schatten im Vordergrund.12

In der Architektur unterscheidet man zwischen der sich zunächst etablierenden dekorativen und der zwischen 1980 und -90 hinzukommenden sozialistischen Postmoderne. Letztgenannte ist vornehmlich für Großstädte der ehemaligen DDR und Polens charakteristisch, wo zerstörte Stadtzentren möglichst schnell in großflächigem Stil erneuert werden mussten. Hierbei wurde versucht, regionale beziehungsweise kulturelle Stadtbilder zu rekonstruieren. Allerdings mussten ambitionierte Sanierungspläne aus Kostengründen häufig der Plattenbauweise weichen.13

Die dekorative Postmoderne hingegen hatte den Anspruch, Gebäude mit ihrer schmückenden Architektur populär oder elitär wirken zu lassen, wobei Formzitate in der Regel nur zu Dekorationszwecken verwendet wurden.14

Besonders dominant hebt sich der ellipsenförmige Grundriss des Gebäudes ab, welcher unweigerlich Assoziationen zu dem eines römischen Amphitheaters weckt. Zwar gelten Amphitheater als Austragungsorte zumeist grausamer und brutaler Veranstaltungen, doch sind sie auch als einendes Unterhaltungsmedium bekannt, zu dem alle freien Bürger:innen des Römischen Reichs kostenlosen Zutritt hatten.15 Geschickt vermittelt so der Umriss des Parlamentsgebäudes das Motto der Europäischen Union: „In Vielfalt geeint.“16 Die Assoziation des kantenlosen Zusammenhalts wird zusätzlich verstärkt, indem ein aufgesetztes Tonnengewölbe sowie kubische Ausbuchtungen auf der Mittelachse den Bau zieren. Diese halbkreisförmigen Kuben könnten wiederum auf den Grundriss eines griechischen Theaters zurückzuführen sein. 

Auch das griechische Theater, das unsere heutige Theaterkultur nach wie vor maßgeblich prägt, war ein Versammlungsort des Volkes und verlangte lange Zeit keinen Eintritt. Darüber hinaus hatten nicht nur männliche Bürger, sondern auch Frauen, Metöken (Fremde, ohne politische Rechte) und Sklaven Zutritt zu den Veranstaltungen.17 Ein bewusster Rückgriff auf die griechische Antike scheint beim Paul-Henri-Spaak-Gebäude auch insofern wahrscheinlich, da sich im alten Griechenland bereits im 5. Jahrhundert vor Christus die erste bekannte Demokratie entwickelte.18

Rundbogen und Symmetrie: Demokratie und Gewaltenteilung?

Neben der Antike werden auch andere Stilrichtungen auf abstrahierte Art und Weise zitiert. Denn die symmetrischen Fensterbänder und aus Naturstein konstruierten Steinpfeiler wecken sogleich Assoziationen zur klassizistischen Architektur, welche sich nicht nur durch den Rückgriff auf antike Formensprachen, sondern ebenfalls durch eine symmetrische Bauweise charakterisiert. Auch das Paul-Henri-Spaak-Gebäude zeichnet sich durch einen symmetrischen Aufbau aus. Hierdurch werden Ausgeglichenheit, Ruhe und Beständigkeit verkörpert. 

Gleichzeitig könnten die vertikalen Steinpfeiler und horizontalen Streben der Fensterbänder als eine Anspielung auf die Gewaltenteilung gedeutet werden. Während die Horizontalen einen Verweis auf die Exekutive, Legislative sowie Judikative darstellen könnten, ist es möglich, dass die Vertikalen darauf hinweisen, dass sich die Macht der EU auf verschiedene untergeordnete Ebenen beziehungsweise auf einzelne Nationalstaaten aufteilt.

Eine weitere Verknüpfung zur griechischen Antike, aber auch zum romanischen Kirchenbau, lässt das an eine Basilika erinnernde aufgesattelte gläserne Tonnengewölbe zu. Bevor Basiliken die Funktion von christlichen Gotteshäusern übertragen wurde, wurden sie in der Antike als Markt- oder Gerichtshallen genutzt. Orte, die jeglichen Gesellschaftsschichten frei zugänglich waren.19

Ein Blick in den Innenraum des Paul-Henri-Spaak-Gebäudes lässt einen halbkreisförmigen Plenarsaal gewahr werden, der Assoziationen zu einem griechischen Theater weckt. Das dort menschlich skalierte Umfeld weist auf einen Ort der Kommunikation hin. Dialog und Austausch werden zudem gefördert, indem die nüchtern gestaltete Halle, über der das gläserne Tonnengewölbe an ein Atrium erinnert. 

Als Versammlungsort der Familie dienend entsprach das Atrium in der Römischen Antike unserem heutigen Verständnis vom Wohnzimmer. Es war ein rechteckiger, in der Mitte platzierter Innenraum, von dem aus alle anderen Räume des Hauses zugänglich waren.20

Changieren zwischen nationaler und supranationaler Architektur

Neben antiken und klassizistischen Stilelementen scheinen auch Anleihen an den Jugendstil vertreten. Besonders die netzartig verglaste Front des aufgesattelten Tonnengewölbes erweckt den Eindruck, eine Referenz zu dem sich in Brüssel befindenden Königlichen Gewächshaus von Laeken konstruieren zu wollen. So erlangt das Paul-Henri-Spaak-Gebäude über seinen Namen und Standort hinaus eine unmittelbare Beziehung zum belgischen Nationalstaat.

Es werde Licht: Vernunft und Demokratie halten Einzug in die Architektur

Das aus gewebtem Stahl konstruierte Glasatrium erfüllt zudem die praktische Funktion, den Innenraum mit Tageslicht fluten zu können, die auch den sich über mehrere Stockwerke erstreckenden Fensterbändern zuteil wird. Dieser natürliche Lichteinfall scheint jedoch nicht nur funktionaler Natur zu sein, sondern könnte auch auf das sogenannte Zeitalter des Lichts – die Aufklärung – hindeuten. 

Die Installation von Glasfassaden kann zudem als Versuch gedeutet werden, Demokratie haptisch erfahrbar zu machen. Denn Glas suggeriert Transparenz und erlaubt eine Auflösung zwischen Innen- und Außenraum, die eine wechselseitige Nähe zwischen denjenigen, die politisch tätig sind und denjenigen, die diese Politik erfahren, herstellt. Doch im Falle des Paul-Henri-Spaak-Gebäudes wird diese Wirkung eher verfehlt. Denn durch die Verspiegelung der Scheiben wird zuallererst ein Gefühl der Abschottung vermittelt. Die Undurchsichtigkeit vieler politischer Handlungen wird so ungewollt unterstrichen.

Demokratisches Bauwerk auch demokratisch gebaut?

Zwar lassen sich durch zahlreiche Stilelemente Verbindungen zu den demokratischen Prinzipien der EU herstellen, doch sollte ein Gebäude niemals unabhängig von seiner Baugeschichte und dem Eindruck, den es in der Bevölkerung hinterlässt, betrachtet werden. 

So sollte sich ins Bewusstsein gerufen werden, dass da, wo das Paul-Henri-Spaak-Gebäude heute steht, das Land zuvor nicht brach lag. Während der sog. Brüsselisierung musste zwischen den 1960er bis -80er Jahren in großem Stil alte Bausubstanz weichen, um Platz für monumentale Neubauten zu schaffen, die das so entstehende Europa-Viertel prägen sollten. Die Resonanz der brüsseler Bevölkerung war während dieses Prozesses eher zweitrangig.21

Brüsselisierung bezeichnet den stadtplanerischen Begriff des teils unkontrollierten und unpassenden Einfügens von großmaßstäblichen Neubauten modernistischer Architektur in historischen Stadtteilen, wie er teilweise in Brüssel und auch in anderen über Jahrhunderte gewachsenen Städten zu sehen ist.

Diese pejorative Bezeichnung trifft auf alle Städteentwicklungen zu, deren Muster der eher unkontrollierten und unmaßstäblichen Entwicklung von Brüssel seit den 1960ern und 1970ern entspricht, die aus der ausbleibenden Gebietsregulierung und einer Laissez-faire-Haltung der Stadtverwaltung resultierte, konkret im Fall des „Manhattan-Plans“ im nördlichen Quartier und dem Bau des Sitzes der EU im Leopold-Quartier.

Die als Brüsselisierung bekannte Bauweise war ursprünglich eine Art der Stadtplanung, die von der Stadtverwaltung Brüssel im Kontext der Expo 58 verwendet wurde. Um die Stadt auf die Expo 58 vorzubereiten, wurden Gebäude unabhängig von deren architektonischer oder historischer Relevanz eingerissen, um Platz für Büro-Gebäude und Wohnblöcke zu schaffen, die ein entsprechend hohes Fassungsvermögen aufwiesen. Es wurden weiterhin Boulevards und Tunnel eingerichtet um dem Bevölkerungsanstieg sachgemäß zu begegnen und die Leistungsfähigkeit der Infrastruktur zu erhöhen.

Durch Brüssels Rolle als Sitz der EU- und NATO-Verwaltung wurden weitere Infrastrukturmaßnahmen, die zu einer fortschreitenden Brüsselisierung führten unternommen, unter anderem der Bau des Areals der Europäischen Kommission.

Immerhin scheint der Architekt des Paul-Henri-Spaak-Gebäudes, Michel Boucquillon, seinen Auftrag nicht willkürlich erhalten zu haben. 1988 gewann er die Ausschreibung der „Association des Architectes du Centre Internationale de Conférence (CIC)“. Doch bei genauerem Hinschauen regt sich Skepsis. Denn eine demokratisch zusammengesetzte Vereinigung ist diese Gruppierung bei Weitem nicht. Befördert wurde sie durch die “Société Espace Léopold”, die sich aus privaten Investoren, Bank- und Finanzinstituten zusammensetzt. Nach welchen Kriterien diese die Jury besetzten und inwieweit sie eigene Interessen außen vor ließen, ist nicht transparent zu ergründen.22

Der Einfluss dieser Gesellschaft auf den gesamten Espace Léopold Komplex ist ein beschämendes Zeugnis einer laissez-faire-Denkweise der belgischen Regierung in dieser Zeit, die die Brüsselisierung befeuerte. Für eine trilinguale respektive trikulturelle Bevölkerung agierend, gelang es der nationalen Regierung kaum, strikte Regulationen durchzusetzen, die von allen Gemeinschaften ohne Weiteres akzeptiert wurden. Folglich konnte der private Sektor Brüssel nahezu ungehindert nach seinen Vorstellungen transformieren.23 

Marode – schon nach 20 Jahren

Obwohl erst in den 1980er Jahren errichtet, weist das Paul-Henri-Spaak-Gebäude schon seit 2010 erhebliche Mängel auf. Aus diesem Grund rief das Europäische Parlament 2020 einen internationalen Architekturwettbewerb aus – nicht nur, um eine umfassende Sanierung des Gebäudes in Auftrag zu geben, sondern auch, um es noch prägnanter als Zeichen der Demokratie hervorheben zu können.24 

Diesmal entschied ein Team aus internationalen Stararchitekt:innen darüber, wer den Bauauftrag erhalten sollte. Dies geschah bereits Anfang 2021. Bekannt gegeben wurde das Ergebnis allerdings erst im Sommer 2022 und heute, im Sommer 2023, ist noch immer nichts passiert.25

Die Ausschreibung gewonnen hat Europarc, eine aus mehreren internationalen Architekturbüros bestehende Gruppe. Aus ökologischen Gründen hat sich Europarc in seinem Entwurf dazu entschlossen, die noch nutzbaren Elemente des Paul-Henri-Spaak-Gebäudes zu erhalten. Dazu gehören die ersten sieben Stockwerke des Kolosses sowie eine Auswahl an originalen Baumaterialien. Um die Gesamteffizienz des Bauwerks zu verbessern, soll der obere Aufbau demontiert werden, sodass drei weitere notwendige Etagen ergänzt werden können.26 

Abgeschlossen werden soll das Gebäude durch einen Dachgarten, der einen Blick in den darunter liegenden Plenarsaal ermöglicht. Darüber hinaus ist geplant, eine öffentliche Passage quer durch das Haus führen zu lassen. Die Kosten für alle Erweiterungs- und Umbaumaßnahmen werden aktuell auf 300 Millionen Euro dotiert.27 Wie das Paul-Henri-Spaak-Gebäude künftig aussehen soll, zeigen die Abbildungen 2 und 3.

Abbildung 2: Europäisches Parlament, © JDS Architects
Abbildung 3: Europäisches Parlament, © JDS Architects

Ein Leuchtturm der Demokratie?

Nicht nur funktionaler, sondern auch demokratischer soll das neue Paul-Henri-Spaak-Gebäude werden. Von einem ‘Leuchtturm der Demokratie’ ist die Rede. Erreicht werden soll das Ziel unter anderem durch den Bau der Passage sowie den öffentlich zugänglichen Dachgarten. Ziel ist mehr Nähe zwischen den Bürger:innen und Funktionär:innen der Europäischen Union zu schaffen und die Arbeit der Abgeordneten transparenter und erfahrbarer zu machen.28

Die beiden Neuerungen sollen zudem als Erweiterung des Parc Léopold wahrgenommen werden, der als ein Ort der Begegnung interpretiert wird. Infolgedessen wurde der vorgesehene Dachgarten nicht ohne Grund durch die im altgriechischen als Marktplatz und Versammlungsort dienende ‘Agora’ inspiriert.29 Ein Ort, an dem Ideen zirkulieren können. Diese Ideen können direkt Eingang in den Plenarsaal finden, der vom Dachgarten nicht nur einsehbar, sondern auch zugänglich sein soll.30

Zugänglichkeit soll zudem über die neue Passage vermittelt werden. Denn sie schafft eine Blickachse zu den übrigen Gebäuden des Espace Léopold Komplex, sodass er verstärkt als eine Einheit wahrgenommen werden und sich besser ins Stadtbild integrieren kann.31

Einhergehend mit dem Wunsch, das Europäische Parlament für die Bevölkerung nahbarer zu machen, ist das Bestreben, mehr Offenheit und Transparenz zu zeigen. Diese sollen durch die Vollverglasung des Bauwerks suggeriert werden, das nun die Form eines ellipsenförmigen Zylinders Diagritz annehmen soll. Die Abkehr von verspiegeltem Glas, das das Gebäude zuvor hermetisch abgeriegelt erscheinen ließ, soll dazu dienen, die Auflösung zwischen Innen- und Außenraum zu begünstigen sowie eine angenehme Leichtigkeit auszustrahlen, sodass es sich harmonisch in die Parkanlage schmiegen kann.32

Fazit: Das Paul-Henri-Spaak-Gebäude – (k)ein Prototyp demokratischen Bauens

Betrachtet man die Bemühungen, das neue Paul-Henri-Spaak-Gebäude volksnäher zu konstruieren und sämtliche eklektische Elemente des aktuellen im postmodernen Stil errichteten Bauwerks, scheint das Parlamentsgebäude durchaus vorzeigbar, was den Versuch angeht, Demokratie und Architektur miteinander zu verknüpfen. 

Versucht das aktuelle Paul-Henri-Spaak-Gebäude seine demokratische Legitimation allen voran durch Anleihen an die griechische Antike zu manifestieren, soll das neue Haus durch Offenheit, Transparenz und Zugänglichkeit punkten. In diesem Sinne kann das Paul-Henri- Spaak-Gebäude durchaus als Positivbeispiel für eine gelungene demokratische Architektur betrachtet werden. 

sokra, 2023: https://sonjakrause-malerei.de

Allerdings sollte nicht die den Stadtraum beherrschende Wirkung vergessen werden, die das heutige Parlamentsgebäude entfaltet. Sich monumental ausbreitend, dominiert es seine Umgebung und wirkt durch die massiven Steinpfeiler sowie die verspiegelten Glasfronten wie eine hermetisch abgeriegelte Festung. Darüber hinaus haftet diesem Gebäude an, ein Kind der sogenannten Brüsselisierung zu sein. Über die Gebäude, die einst auf dem Grund des Espace Léopold Komplex standen, spricht heute niemand mehr.

Sanierung als ein Weg der Demokratisierung

Immerhin scheint man sich im Zuge der geplanten Sanierungsarbeiten von den „alten Methoden“ der Architekt:innenwahl distanzieren zu wollen. Dennoch sollte bitter aufstoßen, dass bereits nach wenigen Jahrzehnten ein solch aufwendig gestalteter Prestigebau derart marode ist, dass auch ein kompletter Abriss in Frage gekommen wäre. Besonders vorbildlich ist das nicht. Denn demokratisch bauen bedeutet auch nachhaltig zu bauen. So bieten Demokratien einer pluralen Gesellschaft die Möglichkeit, dass Nachhaltigkeitsprobleme adäquat erkannt, artikuliert und diskutiert werden, um gemeinsam Lösungswege zu erarbeiten.33 

Ob allerdings nun das anstehende Bauvorhaben als nachhaltig deklariert werden kann, ist fraglich. Abgesehen davon, dass Bauen immer umweltbelastend ist, kann durchaus hinterfragt werden, ob die Vollverglasung von Gebäuden und voluminöse Innenräume noch zeitgemäß sind. Zwar soll das neue Paul-Henri-Spaak-Gebäude energieeffizienter als das aktuelle sein, aber wirklich sparsam wird es sicherlich nicht – schließlich will ein großer Dachgarten klimatisiert werden.

Wer neugierig ist, wie ein Parlamentsgebäude aussehen kann, das auch mit anderen architektonischen Mitteln volksnah wirken und die Gesellschaft widerspiegeln kann, sollte sich einmal das hochmoderne Abgeordnetenhaus von Lichtenstein (Abbildung 4) anschauen, das mit Architekturelementen wie denen eines archaischen Satteldachs spielt.

Abbildung 4: Abgeordnetenhaus von Lichtenstein, © Hansjörg Göritz Architecture Studio

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1 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1400216/umfrage/ergebnis-der-parlamentswahl-in-spanien-2023/

2 https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/afd/273130/etappen-der-parteigeschichte-der-afd/

3 https://www.nzz.ch/pro-global/frankreichs-waehler-werden-extremer-ld.1681647

4 https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20220909IPR40137/ungarn-zerfall-der-demokratie-der-rechtsstaatlichkeit-und-der-grundrechte 

5 https://germany.representation.ec.europa.eu/news/rechtsstaatlichkeit-kommission-verklagt-polen-wegen-verstossen-gegen-eu-recht-durch-den-polnischen-2023-02-15_de

6 https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/principles-and-values/aims-and-values_de

8 https://www.bundestag.de/services/glossar/glossar/D/demokratie-245374 

8 https://www.lpb-bw.de/informelle-buergerbeteiligung.

9 https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/europa/europaparlament-kurz-erklaert-479720; https://www.behnisch-partner.de/lectures-and-essays/gespraech-demokratie-und-architektur; https://www.hsozkult.de/event/id/event-116627.

10 Ingeborg Flagge, Wolfgang J. Stock: Architektur und Demokratie, Hatje, Berlin 2019.

11 https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/history-eu/eu-pioneers/paul-henri-spaak_de 

12 https://www.architektvergleich.ch/ratgeber/postmoderne-architektur-entwicklung-bauwerke-und-architekten-der-gegenwart-c:400091 

13 https://abitur-wissen.org/index.php/kunst/epochen-der-kunst-und-kunstgeschichte/189-kunst-1980-postmoderne

14 https://www.architektvergleich.ch/ratgeber/postmoderne-architektur-entwicklung-bauwerke-und-architekten-der-gegenwart-c:400091 

15 https://abitur-wissen.org/index.php/kunst/epochen-der-kunst-und-kunstgeschichte/189-kunst-1980-postmoderne 

16 Vgl. Augusta Hönle, Anton Henze: Römische Amphitheater und Stadien. Gladiatorenkämpfe und Circusspiele, Atlantis-Verlag, Zürich, 1981.

17 https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/symbols/eu-motto_de 

18 Vgl. Wilhelm Dörpfeld, Emil Reisch: Das griechische Theater. Beiträge zur Geschichte des Dionysos-Theaters in Athen und anderer griechischer Theater, Barth & Von Hirst, Athen, 1896.

19 https://www.lpb-bw.de/geschichte-demokratie#c67265

20 https://www.hisour.com/de/basilica-32815/ 

21 https://languages.oup.com/google-dictionary-de/

22 Vgl. Robert Schediwy: Städtebilder. Reflexion zum Wandel in Architektur und Urbanistik, LIT Verlag, Wien, 2005, S. 61-64.

23 Vgl. Fabbrini, Sebastian: “Whatever Happend to Supranational Architecture?”, in: Ardth, Rosenberg & Sellier, 2020, S. 85-105.

24 Vgl. Fabbrini, Sebastian: “Whatever Happend to Supranational Architecture?”, in: Ardth, Rosenberg & Sellier, 2020, S. 85-105.

25 https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Wettbewerb_Europaeisches_Parlament_entschieden_8125808.html 

26 https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Wettbewerb_Europaeisches_Parlament_entschieden_8125808.html 

27 https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Wettbewerb_Europaeisches_Parlament_entschieden_8125808.html 

28 https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Wettbewerb_Europaeisches_Parlament_entschieden_8125808.html 

29 https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Wettbewerb_Europaeisches_Parlament_entschieden_8125808.html 

30 https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Wettbewerb_Europaeisches_Parlament_entschieden_8125808.html 

31  https://www.geschichte-abitur.de/lexikon/lexikon-antike/agora

32 https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Wettbewerb_Europaeisches_Parlament_entschieden_8125808.html 

33 https://www.rifs-potsdam.de/de/forschungsbereich/demokratie-und-nachhaltigkeit 

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