Natur auf Rezept – auch in Deutschland

– oder auch: Was wir von Finnland und Südkorea lernen können.

Verschiedene Studien sprechen eine eindeutige Sprache: Der Aufenthalt in der Natur wirkt sich positiv auf die psychische, physische und die soziale Gesundheit sowie das persönliche Wohlbefinden aus – und das bereits ab einer geringen Dosis, die in jedem noch so stressigen Alltag praktizierbar ist. 

Die Forschung ist sich einig: Natur hilft der Psyche

Britische Gesundheitswissenschaftler:innen haben auf der Grundlage von Selbstauskünften knapp 20.000 repräsentativ ausgewählter Proband:innen festgestellt, dass sich bereits zwei Stunden Natur pro Woche, egal ob am Stück oder auf mehrere Tage verteilt, wohltuend auf Körper und Seele auswirken.1 Auch Thomas Claßen vom Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen sowie Maxie Bunz vom Umweltbundesamt gehen davon aus, dass das „Natur- und Landschaftserlebnis eine stressreduzierende, blutdrucksenkende, aufmerksamkeitserhöhende, konzentrationssteigernde und restorative Wirkung haben kann“ und in der Folge Aufenthalte in der Natur positiven Einfluss auf  Emotionen, psychische Belastungen sowie Stressempfinden bewirken.2 Untermauert werden diese Erkenntnisse durch amerikanische Untersuchungen, nach denen Proband:innen deutlich niedrigere Konzentrationen des Stresshormons Cortisol aufwiesen, wenn sie sich täglich 20 bis 30 Minuten im Grünen aufhielten.3

Ungeklärt ist nach wie vor, was konkret zu dem positiven Effekt führt. Aber in einer Gesellschaft, in der jede:r Vierte der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen ist4 und in der bei den 18 bis 24-Jährigen psychische Erkrankungen im Jahr 2020 mit 18 Prozent den häufigsten Grund für eine stationäre Behandlung darstellten,5 sollte nicht der letzte Kausalitätszusammenhang abgewartet werden, bis der Nutzen der Natur aktiver in Anspruch genommen wird. 

Natur auf Rezept, wieso nicht auch in Deutschland?

Zudem gibt es Länder, die das Erleben von Natur bereits seit langem staatlich als Teil der Gesundheitspolitik fördern. So empfehlen Mediziner:innen in Finnland, einem Land mit hoher Depressions- und Alkoholismusrate, eine „Mindestdosis Natur“ von fünf Stunden pro Monat.6 In Südkorea und Japan hingegen wurde erfolgreich die Waldtherapie bzw. das Waldbaden ins Gesundheitssystem integriert: Shinrin-Yoku ist eine anerkannte Therapieform, die das bewusste Spazieren durch einen Wald vorsieht, mit dem Ziel, der Natur und den Bäumen näher zu kommen – sei es durch bloßes Betrachten von Bäumen oder das Umarmen von Stämmen und Anfassen von Blättern. Klingt komisch und esoterisch, aber das Ergebnis spricht für sich: Japanische Studien zeigen eine deutliche Minderung von Stress bei Großstädter:innen sowie das Senken von Blutdruck und Cortisol-Level bereits nach nur einer Stunde Aufenthalt in einem Waldgebiet.

Eigentlich Anlass genug für deutsche Ärztinnen und Ärzte, in Zukunft häufiger einfach mal den Gang in die Natur zu verordnen. Entweder als Alternative zu den üblichen Therapiemethoden oder in Ergänzung hierzu. Bislang sind derartige Überlegungen jedoch nicht bekannt. Auch in der Politik spielt das Thema noch keine wirkliche Rolle, obwohl in den letzten Jahren auch hierzulande immer mehr Vereine und private Anbieter:innen das Gesundheits- und Naturschutzkonzept Waldbaden nach der Shinrin Yoku-Methode ermöglichen.

Wie wäre es mit einem Spaziergang, jetzt?

Doch auch wenn eine politische oder kassenärztliche Empfehlung in diese Richtung  wünschenswert wäre, darf bei der Thematik eines nicht vergessen werden: Der Aufenthalt in der Natur ist grundsätzlich allen möglich. Freiwillig und ohne ärztliches Rezept. Der Weg zu mehr psychischer, physischer und sozialer Gesundheit ist daher frei – wir müssen ihn nur gehen. Solange das Gesundheitssystem den heilenden Nutzen der Natur also nicht anerkennt, steht jede und jeder Einzelne in der Pflicht, sich die individuell passende Dosis selbst zu verschreiben. 

Das gilt umso mehr, da die meisten Menschen, die sich schon einmal bewusst die Zeit für einen Spaziergang im Park oder Wald genommen haben oder den Luxus eines Sees in der näheren Umgebung genießen, von den positiven Effekten der Natur auf Körper und Geist nicht überrascht sein dürften. Dennoch wird der Aufenthalt in der Natur im Kampf gegen stressige Alltage viel zu selten als wirksamer und kostenloser Gamechanger erkannt, gleichwohl bereits Straßen mit überdurchschnittlich vielen Bäumen, den gesundheitsfördernden Zweck erfüllen.8

Deshalb stellt sich die Frage: Wie wäre es mit einem Spaziergang? Jetzt vielleicht? Egal, ob auf der Arbeit, zuhause vorm Fernseher oder mit dem Handy auf der Couch – eine Pause in der Natur wäre doch eine gute Idee! Es tut uns gut, ist kostenlos und eigentlich spricht auch nichts dagegen, es einfach zu tun.

© Sokra 2022, https://sonjakrause-malerei.de/

1 White/Alcock/Grellier/Wheeler/Hartig/Warber/Bone/Depledge/Fleming, in: Scientific Reports, Spending at least 120 minutes a week in nature is associated with good health and wellbeing, 13.06.2019. Abrufbar unter: https://www.nature.com/articles/s41598-019-44097-3 (Abrufdatum: 25.08.2022).
2 Claßen/Bunz, in: Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz 61, 720 – 728, 16.05.2018. Abrufbar unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-018-2744-9#ref-CR8 (Abrufdatum: 25.08.2022).
3 Süddeutsche Zeitung, Zwei Stunden Natur pro Woche sind gesund, 13.06.2019. Abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/wissen/umwelt-gesundheit-psychologie-natur-1.4485131 (Abrufdatum: 25.08.2022).
4 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde e. V. (Dgppn), Faktenblatt: Aktuelle Zahlen und Fakten der Psychiatrie und Psychotherapie, Januar 2022. Download unter: https://www.dgppn.de/schwerpunkte/zahlenundfakten.html (Abrufdatum: 25.08.2022).
5 Statistisches Bundesamt, zitiert nach: Zeit Online, Junge Menschen häufig wegen psychischer Erkrankungen im Krankenhaus, 09.08.2022. Abrufbar unter: https://www.zeit.de/wissen/2022-08/psychische-krankheit-krankenhaus-jugend-statistisches-bundesamt (Abrufdatum: 25.08.2022).
6 Lebenskonzepte, Natur – Quelle der Kraft, 23.01.2016. Abrufbar unter: https://www.lebenskonzepte.org/artikelge/natur-quelle-der-kraft (Abrufdatum: 25.08.2022).
7 Japanwelt, Shinrin Yoku – Waldbaden: der Gesundheitstrend aus Japan, 19.05.2019. Abrufbar unter: https://www.japanwelt.de/blog/shinrin-yoku-waldbaden-trend-aus-japan; Li Q, Morimoto K, Kobayashi M et al (2008) Visiting a forest, but not a city, increases human natural killer activity and expression of anti-cancer proteins. Int J Immunopathol Pharmacol 21:117–127 zitiert nach: Fußnote 2 (dort Fußnote 37).
8 National Geographic, Wildnis braucht das Hirn, Heft 01 / 2016 (S. 56 – 75). Abrufbar unter: https://www.nationalgeographic.de/reise-und-abenteuer/wildnis-braucht-das-hirn (Abrufdatum: 25.08.2022).

Das ana magazin braucht deine Unterstützung

Dir hat der Beitrag gefallen? Wenn du unabhängigen Journalismus unterstützen möchtest, freut sich das ana magazin über deine finanzielle Unterstützung. Was wir mit deiner Spende machen, erfährst du hier. Vielen Dank!



Total
0
Shares
Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Previous Post

Fracking in Deutschland: Keine schlechte Idee?

Next Post

Der Einfluss von Schönheit

Related Posts