Demokratisches Bauen in der EU: das Berlaymont-Gebäude

Das Berlaymont-Gebäude in Brüssel – seit jeher Sitz der Europäischen Kommission. Heute: Identifikationsmittel, allseits akzeptiert … und undemokratisch?

Nachdem im ersten Teil “Die EU: (k)ein Maßstab für demokratisches Bauen” die architektonischen Prinzipien demokratischen Bauens am Beispiel des Paul-Henri-Spaak Gebäudes, Dienstort des EU-Parlaments in Brüssel, vorgestellt wurden, widmet sich dieser zweite Teil dem Sitz der EU-Kommission in Brüssel: dem Berlaymont-Gebäude.

Die EU – Kommission zwischen Asbest und Abschottung

Direkt an der Rue de la Loi in Brüssel gelegen ragt es hoch auf – der Grundriss asymmetrisch x-förmig. Die Front mit braunen Platten verkleidet, während an den Längsseiten eine vorgeblendete Stahlfassade die dahinter liegende Glasfensterfront versteckt. Ein aufgesetztes an ein U-Boot erinnerndes Flugdach und ein zurückgesetztes Erdgeschoss, das die darüber angelegten Stockwerke trägt, umgeben von Esplanaden – kurzum: das Berlaymont-Gebäude, Sitz der Europäischen Kommission (Abb. 1).

Den Eindruck, den dieses Bauwerk bei seiner Betrachtung zurücklässt, ist ambivalent. Es zeigt sich weder offen, noch geschlossen, sondern scheint zwischen beiden Zuständen zu oszillieren. Denn einerseits erweckt die vorgeblendete Stahlkonstruktion den Anschein, das Gebäude hermetisch abzuschließen. Dicht umriegelt, erlaubt sie nicht, einen Blick in das Innere des Hauses zu erhaschen. Vielmehr verwehrt sie  jeglichen Einblick in das Handeln derjenigen, die hinter den Fassaden agieren. Trotz dieses Widerspruchs – oder gerade deshalb? – strahlt es eine nüchterne Funktionalität und Zweckmäßigkeit aus, die nach Wirtschaftlichkeit schreit.

Andererseits gewinnt dieses scheinbare Statement eine gewisse Leichtigkeit, indem das zurückgesetzte Erdgeschoss sowie das Flugdach dem Kommissionsgebäude einen fast schwebenden Charakter verleihen.

Abb. 1: Berlaymont-Gebäude, Sitz der Europäischen Kommission © Nicolas Janberg

Berlaymont: Opferung und Auferstehung im Zeichen der Brüsselisierung

Dass sich das Berlaymont-Gebäude in architektonischer Hinsicht maßgeblich vom Paul-Henri-Spaak-Gebäude unterscheidet, ist unschwer zu erkennen. Aber wie ist es in Hinblick auf die Grundsätze des demokratischen Bauens zu verorten?

Wirft man einen Blick auf die Baugeschichte des Hauses, scheint auch diese unweigerlich mit der sogenannten Brüsselisierung verknüpft zu sein. Denn wo heute das Kommissionsgebäude in die Höhe ragt, stand einst ein Augustinerkloster, das 1625 unter anderem von Florent de Berlaymont errichtet wurde. 1960 erwarb der belgische Staat das Kloster, um es abzureißen und schließlich zwischen 1963 und ´68 das Berlaymont-Gebäude errichten zu lassen. Da der ursprüngliche Plan der EU vorsah, den Standort der Kommission regelmäßig zu wechseln, wurde das Berlaymont-Gebäude nicht mit der Intention gebaut, die EU-Kommission langfristig zu beherbergen.1

Brüsselisierung bezeichnet den stadtplanerischen Begriff des teils unkontrollierten und unpassenden Einfügens von großmaßstäblichen Neubauten modernistischer Architektur in historischen Stadtteilen, wie er teilweise in Brüssel und auch in anderen über Jahrhunderte gewachsenen Städten zu sehen ist.

Diese pejorative Bezeichnung trifft auf alle Städteentwicklungen zu, deren Muster der eher unkontrollierten und unmaßstäblichen Entwicklung von Brüssel seit den 1960ern und 1970ern entspricht, die aus der ausbleibenden Gebietsregulierung und einer Laissez-faire-Haltung der Stadtverwaltung resultierte, konkret im Fall des „Manhattan-Plans“ im nördlichen Quartier und dem Bau des Sitzes der EU im Leopold-Quartier.

Die als Brüsselisierung bekannte Bauweise war ursprünglich eine Art der Stadtplanung, die von der Stadtverwaltung Brüssel im Kontext der Expo 58 verwendet wurde. Um die Stadt auf die Expo 58 vorzubereiten, wurden Gebäude unabhängig von deren architektonischer oder historischer Relevanz eingerissen, um Platz für Büro-Gebäude und Wohnblöcke zu schaffen, die ein entsprechend hohes Fassungsvermögen aufwiesen. Es wurden weiterhin Boulevards und Tunnel eingerichtet um dem Bevölkerungsanstieg sachgemäß zu begegnen und die Leistungsfähigkeit der Infrastruktur zu erhöhen.

Durch Brüssels Rolle als Sitz der EU- und NATO-Verwaltung wurden weitere Infrastrukturmaßnahmen, die zu einer fortschreitenden Brüsselisierung führten unternommen, unter anderem der Bau des Areals der Europäischen Kommission.

Tatsächlich war die belgische Regierung skeptisch gegenüber dieser nur provisorisch angedachten Nutzung, in dessen Folge der Bau nach wenigen Jahren leer stehen sollte. Aus dieser Skepsis heraus entwickelte sich deshalb die Idee, das Gebäude so zu konstruieren, dass es im Anschluss als nationaler Ministeriumsbau oder Europäische Institution genutzt werden könnte.2

Ganz so ausgeklügelt scheint die Raumaufteilung jedoch nicht gewesen zu sein. Denn bereits ab 1968 musste der gesamte Innenbereich neu strukturiert werden, um den Arbeitsanforderungen der Europäischen Kommission gerecht zu werden. Eine weitläufige Bürolandschaft musste zahlreichen geschlossenen Arbeitszimmern ohne Fenster weichen, die durch lange, dunkle Korridore miteinander verbunden sind.3 Es folgte ein langer Zeitraum von Modifizierungen, bis schließlich aus praktischen Gründen das Berlaymont-Gebäude ab 1976 als standardmäßiger Sitz der Kommission festgelegt wurde, woran bis heute festgehalten wird.4

Berlaymont: Eine Antwort auf die Frage nach demokratischem Bauen?

Allein aufgrund dieser Baugeschichte ist anzunehmen, dass – wenn überhaupt beachtet – demokratische Aspekte des Bauens bei der Planung und Umsetzung des Berlaymont-Gebäudes andere waren als die, mit denen sich der Architekt des Paul-Henri-Spaak-Gebäudes, Michel Boucquillon, auseinandersetzte.

Die Aspekte demokratischen Bauens

Demokratisch Bauen? Demokratische Architektur? Anders als der Begriff der ‘Demokratie’, gibt es für demokratisches Bauen oder demokratische Architektur keine feste Definition. Vielmehr sind die Leitsätze und Grundprinzipien der Demokratie auf das Feld der Architektur zu übertragen.10 Hieraus ergeben sich folgende Kriterien und Aspekte, an denen das Paul-Henri-Spaak sowie das Berlaymont-Gebäude zu messen sind:

  • Vermittlung von Transparenz: Zugänglichkeit und Offenheit durch die architektonische Formensprache.
  • Zugänglichkeit: durch öffentliche Bereiche
  • Nachhaltigkeit: Verbauen von nachhaltigen Materialien; energieeffizienter Betrieb des Gebäudes; Auswahl von nachhaltigen Konstruktionsverfahren.
  • Repräsentation des Volkes: Architektur, durch die sich Bürger:innen repräsentiert fühlen, unterstützt durch eine Integration des Gebäudes in die städtebauliche Umgebung.
  • Demokratische Vergabe des Bauauftrags.

Die Wahl der Architekten

Anders als beim Sitz des EU-Parlaments im Paul-Henri-Spaak-Gebäude ist der Entwurf des Berlaymont-Gebäudes nicht auf einen ausgeschriebenen Architekturwettbewerb zurückzuführen. Vielmehr wurde der Bau vom belgischen Büro für soziale Sicherheit im Ausland, das sich mit der Unabhängigkeit des ehemals kolonisierten Kongo befasste, und dem belgischen Ministerium für öffentliche Arbeit initiiert. Auch das lokale Bauunternehmen François et Fils war eine der treibende Kräfte für den Bau des Berlaymont-Gebäudes.6 Den Bauauftrag erhielten vier belgische Architekten namens Lucien De Vestel, Jean Gilson, André Polak und Jean Pola.7

Asbest: Chance zur Demokratisierung?

Genauso wie Michel Boucquillon haben auch die Architekten des Berlaymont-Gebäudes früh auftretende Baumängel nicht vermeiden können. So musste das Gebäude aufgrund eines Asbestbeefalls von 1991 bis 2004 teuren Renovierungsarbeiten unterzogen werden.8 Trotz der absehbaren Gründung der EU, welche 1993 mit dem Vertrag von Maastricht besiegelt wurde9, wurde der Asbestbefall nicht zum Anlass genommen, die Sanierungsarbeiten demokratischer anzugehen. Da dem belgischen Staat angeblich die Ressourcen fehlten, wurde die Instandsetzung des Bauwerks von privaten Investoren – hauptsächlich Banken und Finanzinstitutionen – angestoßen und organisiert. Eigens für dieses Unterfangen gründeten sie die Firma “Berlaymont 2000”.10

Zwar taucht bereits in den 1960er Jahren im Zusammenhang mit den Wiederaufbaumaßnahmen nach dem 2. Weltkrieg die Frage nach demokratischem Bauen auf, doch scheint das Berlaymont-Gebäude unter einem anderen Stern gebaut worden zu sein. Denn Transparenz, Zugänglichkeit und Offenheit sucht man an diesem Bauwerk vergebens. Auch das Wissen, dass die vorgeblendete Stahlkonstruktion vor den Fensterfronten erst im Zuge der Renovierungsarbeiten angebracht wurde, mag nicht darüber hinwegtrösten.

Dennoch soll nicht behauptet werden, dass sich die Architekten über demokratisches Bauen keine Gedanken gemacht hätten. Die Installation großer Glasfassaden spricht für die Absicht, eine gewisse Durchsichtigkeit schaffen zu wollen. Darüber hinaus könnten die kubischen Esplanaden, die der x-förmige Grundriss des Gebäudes hervorruft als Versuch gedeutet werden, den Bau mit der städtebaulichen Umgebung in Kommunikation treten zu lassen und dazu einzuladen, die Leerflächen zwischen Haus und Straße als öffentlichen Ort der Begegnung zu nutzen.

Supranationalität: Eine Qualität des Berlaymont?

Das Bestreben der Architekten lag allerdings augenscheinlich viel mehr darin, dem Berlaymont-Gebäude einen supranationalen Charakter zu verleihen – das heißt eine überstaatliche Architektur zu verwenden, die sich von der historische Formensprache der belgischen Baukunst abwendet. Gelungen ist ihnen dies, indem sie sich jeglichem Ornament und Zierrat verweigerten. Des Weiteren verweist der asymmetrisch x-förmige Grundriss darauf, sich bekannten Mustern entsagen zu wollen, um eine national sowie historisch unabhängige Architektur zu entwickeln. 

Jedoch kann die Tatsache, dass die vier Architekten des Kommissionsgebäudes belgischer Herkunft waren, es im Auftrag der belgischen Regierung entwarfen und angehalten waren sich am Stil belgischer Bürogebäude jener Zeit zu orientieren, nicht ignoriert werden.11 

sokra, 2023: https://sonjakrause-malerei.de

Funktionsgerecht, aber undemokratisch

Ein als Prestigeobjekt dienlicher Hingucker ist das Berlaymont-Gebäude garantiert nicht. Zwar scheint es zu Genüge den Arbeitsanforderungen an ein Kommissionsgebäude gerecht zu werden, denen an einen supranationalen Bau allerdings nicht. Denn obwohl versucht wird, durch die Entwicklung einer supranationalen Formensprache historische Bezüge zu vermeiden, ist der Sitz der Europäischen Kommission geladen mit der Brüsseler Stadtgeschichte und somit auch mit der des belgischen Nationalstaats. Die Errichtung von EU-Gebäuden in Brüssel kann wahrscheinlich niemals losgelöst von der sogenannten Brüsselisierung betrachtet werden. 

Darüber hinaus kann das Berlaymont-Gebäude bei Weitem nicht als demokratisches Bauwerk bezeichnet werden. Durch seine vorgeblendete Stahlfassade wirkt es im Gegenteil hermetisch abgeriegelt. Ein Eindruck von Zugänglichkeit, Offenheit oder Transparenz wird so nicht vermittelt. Wirklich repräsentiert und inkludiert fühlen die EU-Bürger:innen sich bei einem Blick auf den Sitz des Exekutivorgans der Europäischen Union deshalb also höchstwahrscheinlich nicht. 

Nichtsdestotrotz wird ausgerechnet das Berlaymont-Gebäude symbolträchtig als identifizierendes Wappen der Europäischen Kommission verwendet12. Wenn allein schon aus ökonomischen Gründen das Errichten eines neuen Gebäudes außer Frage steht, sollte vielleicht wenigsten darüber nachgedacht werden, das Banner der Europäischen Union (Abb. 3) umzugestalten…

Abb. 2: Banner der Europäischen Union © Europäische Union

Das ana magazin braucht deine Unterstützung

Dir hat der Beitrag gefallen? Wenn du unabhängigen Journalismus unterstützen möchtest, freut sich das ana magazin über deine finanzielle Unterstützung. Was mit deinem Geld passiert, verraten wir dir hier. Vielen Dank!



1 https://www.smarttravelers.de/sehenswuerdigkeiten/belgien/bruessel/berlaymont-gebaeude/ 

2 Vgl. Fabbrini, Sebastian: “Whatever Happened to Supranational Architecture?”, in: Ardeth, Rosenberg & Sellier, 7/2020, S. 85-105. 

3 Vgl. Fabbrini, Sebastian: “Whatever Happened to Supranational Architecture?”, in: Ardeth, Rosenberg & Sellier, 7/2020, S. 85-105.

4 https://www.smarttravelers.de/sehenswuerdigkeiten/belgien/bruessel/berlaymont-gebaeude/ 

5 Ingeborg Flagge, Wolfgang J. Stock: Architektur und Demokratie, Hatje, Berlin 1992.

6 Vgl. Driessen, Christoph: Geschichte Belgiens. Die gespaltene Nation, Regensburg, 2020.

7 https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=.+%22EU-Kommission+bald+wieder+in+ihrem+Symbolgeb%C3%A4ude%22+in+Europ%C3%A4ische+Zeitung+%28Oktober-November+2002%29+-+CVCE+Website

8 Vgl. Fabbrini, Sebastian: “Whatever Happened to Supranational Architecture?”, in: Ardeth, Rosenberg & Sellier, 7/2020, S. 85-105. 

9  https://www.europaimunterricht.de/geschichte-der-eu

10 Vgl. Fabbrini, Sebastian: “Whatever Happened to Supranational Architecture?”, in: Ardeth, Rosenberg & Sellier, 7/2020, S. 85-105.11 Vgl. Fabbrini, Sebastian: “Whatever Happened to Supranational Architecture?”, in: Ardeth, Rosenberg & Sellier, 7/2020, S. 85-105.

11 Vgl. Fabbrini, Sebastian: “Whatever Happened to Supranational Architecture?”, in: Ardeth, Rosenberg & Sellier, 7/2020, S. 85-105.

12 https://commission.europa.eu/index_de 

Total
0
Shares
Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Previous Post

Die EU: (k)ein Maßstab für demokratisches Bauen

Next Post

The Whale oder how to lose appetite for popcorn (fast)

Related Posts