Die Grauen Herren sind in der Stadt

Wir sparen Zeit, auf unterschiedlichste Art. Und doch haben alle zu wenig davon. Daran ändern auch Lieferdienste nichts. Helfen könnte aber: Michael Endes „Momo“.

Viele Menschen in Deutschland wissen – überspitzt formuliert – gar nicht mehr, wie ein Leben ohne Lieferdienste funktioniert. Selber kochen? Schon lange nicht mehr. Bei Oma kam noch der Eismann, heute Lieferando. Schwere Getränkekisten werden von Flaschenpost in den fünften Stock der Altbauwohnung ohne Fahrstuhl geschleppt. Und seit zwei Jahren muss man nun auch nicht mehr einkaufen gehen. Flink, Gorillas und Co bringen Snacks und Lebensmittel faster than you zu dir nach Hause.

Eine Erfolgsstory mit dem Namen Lieferdienst

Und auch die Zahlen von statista sprechen eine deutliche Sprache, nämlich: The sky is the limit! Der holländische Lieferdienst Just Eat Takeaway, hierzulande bekannt unter dem Namen Lieferando, verbuchte allein in Deutschland im Jahr 2020 – auch pandemiebedingt – einen Außenumsatz von 2,5 Milliarden Euro und kann stolze 112 Millionen Bestellungen vorweisen. Belegen lässt sich dieser wirtschaftliche Erfolg mit der steigenden Akzeptanz des Online-Bestellens in Deutschland. So bestellten im Jahr 2021 rund 20 Millionen Menschen ein- oder mehrmals Essen im Monat; verteilt auf das ganze Jahr nutzten sogar 42,3 Millionen Personen Lieferdienste für fertige Mahlzeiten.1

Das gleiche Bild zeichnet sich bei einem Blick auf den Online-Lebensmittelhandel. Dort steigerte sich der Umsatz der Branche in Deutschland von 618 Millionen Euro im Jahr 2014 auf 3,9 Milliarden Euro im Jahr 2021. 4,19 Millionen Personen kaufen online Lebensmittel. Und die Marktchancen geben weitaus höhere Zahlen her. Denn in Deutschland geben die Konsumentinnen und Konsumenten jährlich über 260 Milliarden Euro für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren aus, was 15 % der gesamten privaten Konsumausgaben sind. Der Umsatz im E-Commerce-Bereich zeigt das Potenzial. Amazon, Otto, Zalando und Co. machten im Jahr 2021 rund 86 Milliarden Euro Umsatz.2 Gut möglich, dass auch der Online-Lebensmittelhandel schon bald in diese Sphären vorstößt.

Die Vorteile sind vielfältig

Zu verdenken wäre es den Konsument:innen wahrlich nicht, wenn sie vermehrt auf Lieferdienste zurückgreifen würden, um den Kühlschrank zu füllen. Die Vorteile liegen schließlich auf der Hand:

Lieferdienste stellen für weniger mobile Menschen eine kostengünstige Möglichkeit dar, um sich den nicht mehr ohne Weiteres möglichen Weg zum Supermarkt oder Restaurant zu sparen. Daneben gibt es berufstätige Single-Eltern, für die das Einkaufen und Essen bestellen per Klick eine verlockende Option darstellt, wird doch so erst die notwendige Zeit für die Kinderbetreuung oder soziale Verpflichtungen frei geschaufelt. Aber auch kochfaule Menschen, die schlicht keine Lust auf das alltägliche abendliche Kochen nach einem anstrengenden Arbeitstag haben, profitieren von dem wachsenden Onlineangebot. Dementsprechend überrascht es nicht, dass 80 Prozent der Konsument:innen angeben, Essen bei einem Lieferdienst zu bestellen, da sie wenig Lust auf Kochen haben. Etwa 30 Prozent gaben an, aufgrund von Zeitmangel auf einen Lieferdienst zurückzugreifen.3

Zeitsparen mithilfe von Lieferdiensten

Da kommt es doch keiner Überraschung gleich, dass Lieferdienste von vielen als Gamechanger des Alltags empfunden werden. Einkaufen ist nun wirklich nicht der schönste Zeitvertreib des Lebens. Oder wie Hasan Gökkaya es so schön in einem Meinungskommentar für rbb244 formuliert:

„Es mag sie geben: Menschen, die sich dort gerne umschauen und dabei sogar entspannen. Ich schätze zwar guten Käse von der Theke und mag die Abwechslung, insgesamt aber habe ich nie gerne Zeit im Supermarkt verbracht. Wäre Einkaufen nicht lebensnotwendig, ich würde es oft als Zeitverschwendung ansehen.“

Er kommt zu dem Fazit: Die Nutzung von Lieferdiensten sei ein

„Stück Rückeroberung des Alltags, in einer Welt, die immer schneller wird und einem mehr und mehr kostbare Zeit abzwackt.“

Und genau dieses Zitat macht das eigentliche Problem offensichtlich. An dieser Stelle wird es persönlich und weniger empirisch, aber nicht weniger wichtig. Dem wirtschaftlichen Erfolg der Lieferdienste und der dahinterstehenden gesellschaftlichen Akzeptanz liegt eine negative Entwicklung der letzten Jahre (oder Jahrzehnte) zu Grunde – ein immer weiter zunehmendes Effizienzdenken und die vermeintliche Verknappung von Zeit. Wir haben schlicht keine Zeit. Oder besser: Wir glauben, keine Zeit zu haben, um auf den zahlreichen Hochzeiten zu tanzen, die uns häufig über Social Media von unseren Freunden als Pflichtveranstaltung angetragen werden. In der Folge wird es immer wichtiger, möglichst effizient in der Freizeitgestaltung zu sein. Die dahinterstehende Logik: Spare ich beim Einkaufen und Kochen Zeit, dann kann ich nicht nur in der Bar ein Getränk mit Freundinnen und Freunden trinken, sondern auch noch zum Sport, Instrumentenunterricht oder Sprachtraining gehen und vor dem Schlafengehen die neueste Folge der Lieblingsserie streamen. Es ist wohl nicht ganz weit hergeholt, möchte man einen Zusammenhang zwischen dem Bedürfnis nach Zeitsparen und der Fear of missing out herstellen.

Logisch, dass bei diesem Pensum jede sich ergebende Gelegenheit des Zeitsparens beinahe gierig genutzt wird, sodass mittlerweile der ganze Tagesablauf geprägt vom Zeitsparen ist: Beim Frühstück geht es los, das nicht zuhause zubereitet und gegessen wird. Viel effizienter ist es, die von Gorillas gelieferten Joghurt, Apfel und Cornflakes am Schreibtisch zu sich zu nehmen – während des Abarbeitens des über Nacht gefüllten Email-Postfachs versteht sich. Gleiches Prozedere ist möglich in der Mittagspause. Diesmal vielleicht Pizza von Dominos? Nach der Arbeit wird dann noch schnell per App bei Yoko Sushi bestellt – Kartoffel schälen, Gemüse schneiden und Wasser aufsetzen ist so alles nicht mehr erforderlich. Im Ergebnis müsste dann, wenn alles nach Plan verläuft, total viel gewonnene Zeit vorhanden sein. Zeitmanagement also geglückt?

Zeitsparen führt nicht zwingend zu einem Mehr an Zeit

Mitnichten. Das Problem: Mehr Zeit ist nicht gleich mehr Zeit im Sinne des Herbeiführens eines Mehrwerts. Die Frage, die gestellt werden muss, lautet: Für was genau verwenden wir diese Zeit? Für das Zurückerlangen des Alltags? Wohl auch, aber wohl sehr viel häufiger nicht. Efthymis Angeloudis5 bringt es auf den Punkt:

„Doch für was genau verwenden wir diese Zeit? Um noch mehr Zeit auf denselben Apps zu verbringen? Denn was uns als ‚Demokratisierung der Faulheit‘ verkauft wird, ist ein schleichender Prozess der Isolation – das genaue Gegenteil von Demokratie. Was übrig bleibt ist das Ich und seine Wünsche.

Eine neue Generation gewöhnt sich daran, alles, was sie will, On-Demand geliefert zu bekommen. Unterhaltung, Lebensmittel, Liebe: Netflix, Gorillas und Tinder haben Millionen Menschen geschaffen, die nur noch ihren eigenen Wunsch(artikel) vor Augen haben und dabei manches andere aus den Augen verlieren.“

Und so soll dieser Beitrag ein Plädoyer dafür sein, die eigenen – durch Effizienzwahn und Zeitsparen – geprägten Verhaltensweisen zu überdenken. Es geht nicht darum, ob Einkaufen oder Kochen Spaß macht. Vielmehr geht es um eine innere Grundhaltung über die Nutzung der zur Verfügung stehenden Zeit. Denn ein Tag hat 24 Stunden und daran wird sich nichts ändern. Der Anspruch, der zwangsläufig zu FOMO-Gefühlen und Alltags- und Freizeitstress führt, sollte somit nicht sein, möglichst viel in diese 24 Stunden unterzukriegen. Wer so handelt, wird über kurz oder lang das Hier und Jetzt immer flüchtiger wahrnehmen, weil er nur damit beschäftigt ist, so viel wie möglich mitzunehmen. Und so bleibt am Ende doch wieder das Gefühl, nicht ausreichend Zeit zur Verfügung zu haben; spannenderweise in der Regel von denen, die einen hohen Aufwand gerade in das Zeitsparen stecken.

Das kleine Mädchen Momo als Vorbild

Lernen können wir alle von Michael Ende und seiner Geschichte über Momo, die Grauen Herren und das verlockende Angebot der Zeit-Spar-Kasse. Und so steigen wir zum Lösen des Problems des Zeitsparens etwas in diese wundervolle Geschichte der 70er Jahre ein. Auch das nimmt etwas unserer kostbaren Zeit in Anspruch, aber es lohnt sich! Wir erinnern uns:

(…) Draußen am südlichen Rand dieser großen Stadt, dort, wo schon die ersten Felder beginnen und die Hütten und Häuser immer armseliger werden, liegt, in einem Pinienwäldchen versteckt, die Ruine eines kleinen Amphitheaters. (…) Aber eines Tages sprach es sich bei den Leuten herum, dass neuerdings jemand in der Ruine wohne. Es sei ein Kind, ein kleines Mädchen vermutlich. So genau könne man das allerdings nicht sagen, weil es ein bisschen merkwürdig angezogen sei. Es hieße Momo oder so ähnlich.“

Momo also. Dieses kleine Mädchen entwickelte sich mit der Zeit zu der wichtigsten Person der ganzen Stadt. Die Stadtbewohner:innen „brauchten Momo, und sie wunderten sich, wie sie früher ohne sie ausgekommen waren (…) Aber warum? War Momo vielleicht so unglaublich klug, dass sie jedem Menschen einen guten Rat geben konnte? Fand sie immer die richtigen Worte, wenn jemand Trost brauchte? Konnte sie weise und gerechte Urteile fällen?

Nein, das alles konnte Momo ebensowenig wie jedes andere Kind. Konnte Momo dann vielleicht irgend etwas, daß die Leute in gute Laune versetzte? Konnte sie zum Beispiel besonders schön singen? Oder konnte sie irgendein Instrument spielen? Oder konnte sie – weil sie doch in einer Art Zirkus wohnte – am Ende gar tanzen oder akrobatische Kunststücke vorführen?

Nein, das war es auch nicht. Konnte sie vielleicht zaubern? Wußte sie irgendeinen geheimnisvollen Spruch, mit dem man alle Sorgen und Nöte vertreiben konnte? Konnte sie aus der Hand lesen oder sonstwie die Zukunft voraussagen?

Nichts von alledem. Was die kleine Momo konnte, wie kein anderer, das war: Zuhören. Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig. Momo konnte so zuhören, daß dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme.“

Wenn die Grauen Herren in die Stadt kommen

Und so kam es, dass alle Stadtbewohner:innen Momo in ihrem Amphitheater aufsuchten. Vermeintlich ohne Grund. Sie fühlten sich einfach wohl bei ihr im Amphitheater, außerhalb der Stadt. Bei Momo konnte man so sein, wie man war und die Zwänge des städtischen Alltags für kurze Zeit außer Acht lassen. Momo hörte einfach nur zu, wenn Nino und Nicola stritten und sich plötzlich durch Momos Anwesenheit wieder vertrugen und sie spielte mit den Kindern der Stadt, wenn diese sich langweilten. Momos einzige, aber wichtigste Gabe: Sie hatte Zeit.

Doch irgendwann ließen die Besuche der Stadtbewohner:innen nach. Schließlich kamen sogar die Kinder nicht mehr zum Spielen. „Es war wie eine lautlose und unmerkliche Eroberung, die tagtäglich weiter vordrang, und gegen die sich niemand wehrte, weil niemand sie so recht bemerkte. Und die Eroberer – wer waren sie?“ (…) Es waren Herren, die ganz in spinnwebfarbenes Grau gekleidet waren. Selbst ihre Gesichter sahen aus wie graue Asche. Sie trugen runde steife Hüte auf den Köpfen und rauchten kleine, aschenfarbene Zigarren.“

Das verlockende Angebot des Zeitsparens

Doch was war passiert? „(…) Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, daß einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und genau das wußte niemand besser als die grauen Herren. Niemand kannte den Wert einer Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben so wie sie. (…) Sie hatten ihre Pläne mit der Zeit der Menschen.“

Hartnäckig wie Staubsaugervertreter schwatzten sie den Stadtbewohner:innen Zeitsparmodelle auf, je nach privater und beruflicher Situation. Herr Fusi, der Friseur, war das erste Opfer der Grauen Herren: „Aber, mein Bester, Sie werden doch wissen, wie man Zeit spart! Sie müssen zum Beispiel einfach schneller arbeiten und alles Überflüssige weglassen. Statt einer halben Stunde widmen Sie sich einem Kunden nur noch eine Viertelstunde. Sie vermeiden zeitraubende Unterhaltungen. Sie verkürzen die Stunde bei ihrer alten Mutter auf eine halbe. Am besten geben Sie sie überhaupt in ein gutes, billiges Altersheim, wo für sie gesorgt wird, dann haben Sie bereits eine ganze Stunde täglich gewonnen. Schaffen Sie den unnützen Wellensittich ab! Besuchen Sie Fräulein Daria nur noch alle vierzehn Tage einmal, wenn es überhaupt sein muss. Lassen Sie die Viertelstunde Tagesrückschau ausfallen und vor allem, vertun Sie Ihre kostbare Zeit nicht mehr so oft mit Singen, Lesen oder gar mit Ihren sogenannten Freunden.“ Und, so die Rechnung der Grauen Herren, mit Einsparen dieser Zeit, hätte Herr Fusi in der Vergangenheit bereits 1 324 512 000 Sekunden sparen können. Eine Summe von 42 Jahren, die ihm im Alter von 62 Jahren zur freien Verfügung stünde.

Ein verlockendes Angebot, nicht nur für Herrn Fusi. Die Grauen Herren schafften es, die gesamte Stadt von ihrem Zeitsparmodell zu überzeugen. Und so kam es, dass die Menschen immer hartnäckiger versuchten Zeit zu sparen. Beim Arbeiten. Beim Kochen. Beim Schlafen. Beim Treffen mit Freunden. Bei der Kindererziehung. Und. Und. Und. Das Ergebnis? „Bis heute war es so, dass immer mehr Menschen immer weniger Zeit hatten, obgleich mit allen Mitteln fortwährend Zeit gespart wurde. Aber seht ihr, gerade diese Zeit, die da gespart wurde, war es, die den Menschen abhanden kam.“

Kann Zeit überhaupt gespart werden?

Natürlich ist Michael Endes Geschichte nur Fiktion. Doch der Bezug zur Gegenwart ist offenkundig. Auch wir machen uns immer häufiger zu Geiseln unserer Zeit. Wir rechnen uns gegenseitig vor, wie viele Stunden nach Arbeitsende noch bleiben, um sie möglichst sinnvoll und effizient zu nutzen. Deshalb ist es schön, dass an jeder Ecke des Alltags Angebote lauern, Zeit zu sparen. Also sparen wir Zeit. Auf die Hilfe der Grauen Herren und ihre Zeitsparkonten sind wir gar nicht angewiesen. Ganz freiwillig verwandeln wir uns selbst zu Grauen Männern und Frauen. Oberste Priorität: Zeit sparen.

Und bei vielen geht das Konzept auch auf. Denn das Prinzip „Lieferdienst“ ist eine Innovation gewesen, die gerade auf das knappe Gut der Zeit abzielte und uns genau diese schenkt, in dem wir nicht einkaufen oder kochen mussten. Damit haben Lieferdienste die Lösung für das Zeitproblem vieler Menschen adressiert. Doch das hinter dem Erfolg von Lieferdiensten stehende Gefühl der Verknappung von Zeit, des Nicht-Genug-Habens kann genauso negativ ausgelegt werden, wie der Begriff des Zeit-“Sparens“ an sich. Dem Sparen liegt im Grunde ein knappes Gut zugrunde, dass geschont oder unversehrt gehalten werden soll, um irgendwann – aber nicht im Hier und Jetzt – Mehr davon zu haben. Mag dies bei Geld noch Funktionieren, ist dies bei Zeit zweifelhaft, weil Zeit gerade kein materieller Gegenstand oder Wert ist. Zeit ist nicht greifbar, obwohl sie sogar messbar ist. Aber egal wie angestrengt wir beim Joggen unsere Laufzeit erfassen oder beim Arbeiten Überstunden sammeln, letztendlich hat Albert Einstein Recht:

„Zeit ist das, was man von der Uhr abliest.“

Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Deshalb kann Zeit durchaus gespart, gesammelt oder angehäuft werden. Doch wirklich mehr wird dadurch nur der Wert, den wir von der Uhr ablesen. Anders als bei Geld wird dadurch der Sinn des Sparens noch nicht erreicht. Denn wir sparen Zeit nicht, um bloß mehr davon zu haben. Wir sparen Zeit, um mit der ersparten Zeit ein Mehr zu erleben.

Die Verantwortung liegt bei uns

Daher ist es ein Trugschluss zu glauben, Lieferdienste allein würden uns Zeit schenken. Nein, sie versetzen uns lediglich in die Lage, aus der ersparten Zeit einen Mehrwert zu kreieren. Und so lautet die Kritik, dass wir zwar Meister in der einfachsten Sache der Welt sind: Dem Zeitsparen durch die bloße Inanspruchnahme von entsprechenden Angeboten. Einer eigenen Anstrengung bedarf es hierfür erst mal nicht. Doch auf der viel wichtigeren, der zweiten Ebene scheitern wir dann (nicht selten) kolossal: Wir versäumen es, diese ersparte Zeit sinnvoll zu nutzen, um wirklich einen Mehrwert aus dem Zeitsparen zu gewinnen.

Nicht selten setzen wir die ersparte Zeit sogar ein, um weiter Zeit zu sparen. So wird beispielsweise die durch Lieferdienste gewonnene Zeit dafür genutzt, bei Blinkist eine 15-minütige Zusammenfassung eines 400 Seiten dicken Buches anzuhören. Im Vordergrund steht auch hier der effiziente Konsum von Wissen auf Kosten des tieferen Verständnisses, einhergehend mit dem Verlust der Möglichkeit, sich mit dem Stoff intellektuell auseinanderzusetzen. Das mag zwar sinnvoller sein als die Lieferzeit auf Instagram, TikTok oder dergleichen zu verdaddeln, zugrunde liegt aber erneut das Gefühl eines Zeitdefizits, das wir durch das Einsparen einer Zahl auf der einsteinschen Uhr versuchen zu überwinden. In die gleiche Richtung gehen im Online-Journalismus dem eigentlichen Artikel vorangestellte stichwortartige Zusammenfassungen. Ein weiterer Klassiker ist die gute alte E-Mail. Was war die Freude groß, dass durch das entbehrlich gewordene handschriftliche Briefe schreiben mehr Zeit für die wichtigen Dinge zur Verfügung stehen würde. Auch falsch. Die Vereinfachung der Kommunikation hat lediglich dazu geführt, dass schneller und häufiger kommuniziert wird. Ein nicht zu vernachlässigender Vorteil!

Aber das Beispiel der E-Mail zeigt gut auf, dass Zeitspar-Angebote Teil des Problems sind. Sie vereinfachen uns Dinge, ermöglichen es uns, in kurzer Zeit viel zu tun oder in der ersparten Zeit andere Dinge zu erledigen. Im Ergebnis – paradox, aber wahr – führt so das Sparen von Zeit häufig selbst zu dem Gefühl der Verknappung von Zeit. Schließlich benötigen wir mehr Zeit, um alle Möglichkeiten, die unser Alltag bereithält, auch tun zu können.

Es braucht ein starkes Gegenkonzept zum Zeitspar-Modell

Der Clou an Michael Endes Geschichte ist, dass den Stadtbewohner:innen das zuvor Geschilderte bewusst ist. Dennoch rennen sie sehenden Auges in den Abgrund. Michael Ende muss die kleine Momo, unterstützt von Meister Hora und der wundersamen Schildkröte Kassiopeia, in einem Heldenakt losschicken, um die Menschen vor den Grauen Herren und ihrem Zeit-Spar-Modell zu retten.

In der Realität gibt es keine Momo. Keinen Meister Hora. Und keine Kassiopeia. Es braucht daher ein starkes Gegenkonzept zum Zeitspar-Modell: Das im Hier und Jetzt leben. Zeit selbst als Genussmittel ansehen und nicht als defizitären Wert auf einer Uhr. Keine Angst haben, etwas zu verpassen. Im Ungeplanten aufmerksam für Neues sein. Das Schöne im Ineffizienten entdecken. Gemeint ist eine andere innere Haltung zu dem kostbaren Gut der Zeit. Ein japanisches Sprichwort trifft es auf den Punkt:

„Wenn du es eilig hast, mache einen Umweg.“

Für diese Haltung trägt jede und jeder selbst die Verantwortung. Daher wäre es nicht angebracht, an dieser Stelle Vorschläge zu unterbreiten, ob Lieferdienste genutzt oder was bis zur Lieferung des Essens oder der Lebensmittel getan werden sollte. Die beschriebene Haltung mit Leben zu füllen, ist Sache jeder und jedes Einzelnen.

Deshalb bleibt es dabei: Ein Tag hat 24 Stunden. Je nach Betrachtung gar nicht so wenig. Uns helfen, sie richtig zu nutzen, kann ein Zitat von Martin Suter mit seinem Gegenkonzept zu FOMO:

„Man kann nichts verpassen im Leben.“

Was für eine beruhigende Feststellung.

© Sokra 2022, https://sonjakrause-malerei.de/

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1 comments
  1. Eine schöne Anregung sich über die eigene Gestaltung des Alltages Gedanken zu machen. Kann und will man die Quantität der verbrachten Zeit mit der Qualität vergleichen?

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