Der Blick der Gesellschaft

Gaze: Die Macht des Blickes

– oder auch: ein essayistischer Blick auf das Konzept des Gaze.

Jede:r kennt die vielen unterschiedlichen Gefühle, die Blicke in einem auslösen können. Der kurze Augenkontakt, den man mit dem schönen Fremden auf der Straße hat, lässt die Nerven flattern und das Herz hüpfen. Das Mustern der enttäuschten Vorgesetzten, die einen nach einem gescheiterten Projekt betrachtet, ist hingegen alles andere als angenehm. Und es muss nicht nur der Blick eines einzelnen anderen Menschen sein: Auch der allgemeine Blick, den ein dünner und wenig muskulöser Mann auf sich spürt, löst ein verinnerlichtes Gefühl von mangelnder Männlichkeit aus. Die Blicke, denen eine Frau im Sommer auf der Straße ausgesetzt ist, nur weil sie kurze Hose und Top trägt, tragen pure Sexualisierung in sich. Blicke und Betrachtungsweisen können also große Kraft haben.

All das lässt sich bündeln im Konzept des gaze. Er geht weit über das hinaus, was seine reine Übersetzung impliziert: „der Blick“ fasst nämlich nur einen kleinen Teilaspekt dessen, was alles ideengeschichtlich damit gemeint ist. Der gaze ist als Begriff Gegenstand vieler wissenschaftlicher Disziplinen. Beispielsweise die Psychoanalyse, die Kunstgeschichte, die Kritische Theorie (oder auch Frankfurter Schule), Gender Studies und die Philosophie beschäftigen sich mit diesem Konzept. Verschiedenste Denker:innen haben sich bereits dem Begriff genähert: Der gaze bezeichnet immer das Bewusstsein und die Wahrnehmung einer:s Einzelnen oder einer Gruppe von anderen Individuen, Gruppen oder dem Selbst. Es geht stets um eine Sache: Macht.

Der gaze als Schauen

Der gaze ist dabei als der Blick zu verstehen – jedoch geht er weit über das bloße Ansehen hinaus. Ein Sehen ist hier gedacht und wird verstanden als Akt der Machtausübung. Jean-Paul Satre war einer der ersten Denker:innen, die sich dem Begriff genähert und ihn geprägt haben. Folgt man seinen Ausführungen, ist der gaze immer objektifizierend. In seinem Buch Being and Nothingness schreibt er:

“… wir können nicht die Welt wahrnehmen und gleichzeitig einen Blick erfassen, der auf uns gerichtet ist; es muss entweder das eine oder das andere sein. Denn wahrnehmen heißt anschauen, und einen Blick erfassen heißt nicht, einen Blick als Objekt auf die Welt zu erfassen; es ist das Bewusstsein, angeschaut zu werden.“

(Satre, Jean-Paul: Being and Nothingness, 1956. S. 347. (eigene Übersetzung))

Was meint Satre damit? Seiner Meinung nach ist es unmöglich, gleichzeitig im Sinne des gaze angesehen zu werden und jemand oder etwas anderes anzusehen. Der allgemeine Zustand, der durch das etwas Ansehen konstituiert wird, ist nicht kombinierbar mit dem Zustand, von jemandem angesehen zu werden. Nochmal: Der gaze ist mehr als das, was man gemeinhin bezeichnet als „jemanden ansehen“. Satre geht so weit, von Objektifizierung zu sprechen – seiner Aussage nach wird dem:der Angesehene:n durch den gaze die Menschlichkeit genommen. Das Gegenüber wird zum Objekt gemacht.

In dieser Rolle als Objekt wird sich der:die Betrachtete ihrer:seiner eigenen Rolle als Objekt bewusst – wir Erkennen uns im Miteinander mit jemand anderem, da uns als Menschen der äußere Blick auf unser eigenes Selbst nicht möglich ist. Der gaze ist damit auch ein Bewusstsein des Angesehenwerdens. Wir erinnern uns: Der gaze hat immer mit Macht zu tun. Der:Diejenige, der:die anschaut, hat Macht über den:diejenige, der:die angeschaut wird: Es wird Macht gewonnen und ausgeübt. Im Sinne Satres muss der gaze als aggressive Macht verstanden werden, die sogar das Potential hat, zu unterjochen und zu bezwingen. Es geht um den Kampf der objektifizierenden Blicke gegeneinander.

Der gaze nach Satre klingt alles in allem also alles andere als angenehm oder ausgleichend. Er ist vielmehr Ausdruck eines Wettkampfes. Ich sehe dich an, und durch das Ansehen übe ich Macht aus und bringe sie zum Ausdruck. Zudem werden über ihn verschiedene Konzepte der Psychoanalyse und der Selbsterkennung verankert. Der gaze ist ein konzeptionell integrales System der Macht.

Der gaze als Sehen

Gehen wir ideengeschichtlich nun ein wenig weiter: Der Philosoph und Begründer der Diskursanalyse, Michel Foucault, sieht im gaze ebenfalls Ausdruck einer Machtbeziehung zwischen dem Beobachter und dem Subjekt. Es gibt auch hier eine direkte, klare Rollenverteilung. Der gaze ist ein „asymmetrischer Akt des Schauens“. Foucault nimmt nun aber dieses System der Macht und setzt es in bestimmte sozio-politische Beziehungen – er nutzt das Konzept des gaze, um Machtbeziehungen zu erklären, nicht bloß, um sie festzustellen.

Beispielsweise führt er die Ungleichheit zwischen Arzt:Ärztin und Patient:in an: Der sogenannte medical gaze ist immer durchdrungen von einem Ungleichgewicht des Wissens und des Schauens. Ärzt:innen werden immer über mehr medizinisches Wissen verfügen und sind somit den Patient:innen grundsätzlich überlegen. In der Anamnese der Krankheit oder des Gebrechens sind die Subjekte dadurch immer den Beobachtenden ausgeliefert.  Zudem spielt die soziale und gesellschaftliche Komponente eine große Rolle: Die historisch gewachsene soziale Stellung von Ärzt:innen spielt in den gaze unabdingbar hinein. Ärzt:innen als Respekts- und Einflusspersonen mit hohem Gehalt und einflussreichem sozialen Status – all diese Komponenten arbeiten im gaze mit und manifestieren einen Ausdruck von Machtgefügen.

Andere Beispiele sind u.a. das Verhältnis zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen oder Gefangenen und Aufseher:innen. Foucault entwirft für den Fall des Gefängnisses im Speziellen das theoretische Konzept des Panopticums: ein Apparatus des Überwachens, der es möglich macht, Häftlinge zu jedem Zeitpunkt im Auge zu haben. Darüber hinaus befähigt das Panopticum die Aufsehenden dazu, mit der Unwissenheit der Gefangenen zu spielen, da diese nicht wissen, ob sie wirklich beobachtet werden oder nur der Anschein geweckt und vermittelt wird. In solchen strukturellen Bedingungen, wie auch immer dieses Überwachen zunächst geartet sein mag, bringt der gaze sehr deutlich Konstellationen von Macht zum Vorschein und verfestigt sie durch seinen Ausdruck.

Die Arbeit von Foucault zieht im Allgemeinen stark auf das Erkennen, Beobachten und Benennen von solchen Relationen in sozio-politischen Kontexten ab. Der gesellschaftliche Blick spannt sich hierbei von einzelnen Personen bis hin zu ganzen Institutionen. Überwachen und Beobachten können ganze Gruppen und von der Gesellschaft installierte Apparate und Instanzen. Dies alles dient einem bestimmten Zweck: dem Erhalten der Norm. Das, was der Großteil der Gesellschaft, der kontrollierende Teil, als „normal“ und „richtig“ ansieht, wird als akzeptabel toleriert. Weicht man oder etwas davon ab, wird dies sanktioniert – es kommt zur Bestrafung. Wer z. B. außerhalb des Gesetzes handelt, wird von einem Gericht mit Strafen belegt. Wer sich aber anders verhält als die meisten Menschen, ohne eine Straftat zu begehen, wird von der Gesellschaft ausgeschlossen und dadurch abgestraft. In diesem System erhält sich dadurch die kontrollierende Instanz selbst.

Rekapitulieren wir nochmal: Foucault nimmt also das allgemeine Konzept des gaze, das von Macht und Wissen geprägt ist, und projiziert es auf sozio-kulturelle Zusammenhänge und Gegebenheiten, um Erklärungen dafür zu finden, wie Machtstrukturen funktionieren. Er weitet das Konzept vom reinen Akt des Sehens und Beobachtetwerdens von Menschen hin zu einem Zustand des Beobachtetwerdens durch Gruppen, Instanzen und die Gesellschaft an sich. Der Ausdruck des Zwischenmenschlichen lässt sich dadurch auf Zusammenhänge skalieren, die über den einzelnen Menschen hinausgehen.

Der male gaze oder: Mal wieder das Patriarchat.

Betrachten wir nun einen bestimmten gaze: Der male gaze hat seinen Ursprung in der feministischen Filmtheorie und bezieht sich auf einen sehr spezifischen gesellschaftlichen Machtzusammenhang: den des Patriarchats. In der Soziologie beschreibt das Patriarchat ein System von sozialen Beziehungen. Dabei werden maßgebende Werte wie Macht, Ordnung und konkrete Handlungsanweisungen, die sich durch diese Werte ergeben, durch das männliche Subjekt bestimmt. Das bedeutet für die Frauen, dass der Mann im Patriarchat die Macht ausübt, da er darüber entscheidet, wie die Frauen handeln sollen.

Die Autorin Laura Mulvey beschreibt in ihrem Aufsatz Visual Pleasure and Narrative Cinema1 aus dem Jahr 1975 erstmals den male gaze in Bezug auf das klassische Hollywood-Kino. Da das Kino nach Mulvey ein “hochentwickeltes Repräsentationssystem”2 ist, ist es in der Realität dem Gesetz unterworfen, von dem es produziert wird: der Gesellschaft. Da diese patriarchal ist, ist das Kino ebenfalls so organisiert: Die Frau ist dem Mann unterlegen. Unterschiedliche Darstellungsweisen von Mann und Frau, die dieses Machtgefälle reproduzieren und dadurch manifestieren, sind die Konsequenz daraus. Mulvey schreibt:

In einer Welt, die von sexueller Ungleichheit bestimmt ist, wird die Lust am Schauen in aktiv/männlich und passiv/weiblich geteilt. Der bestimmende männliche Blick [= gaze] projiziert seine Phantasie auf die weibliche Gestalt, die dementsprechend geformt wird. In der Frauen zugeschriebenen Rolle als sexuelles Objekt werden sie gleichzeitig angesehen und zur Schau gestellt, ihre Erscheinung ist auf starke visuelle und erotische Ausstrahlung zugeschnitten, man könnte sagen, sie konnotieren ‚Angesehen-werden- Wollen‘. (Mulvey 1994, S. 55)

Der male gaze ist hier als kontrollierender und neugieriger Blick zu verstehen, der stets eine heterosexuelle, monodimensionale und sexualisierte oder objektifizierte Perspektive einnimmt. Männer hingegen können “entsprechend der Prinzipien der herrschenden Ideologie und den sie fundierenden psychischen Strukturen”3 nicht zum Sexualobjekt gemacht werden. Ihnen kommt im Repräsentationssystem Kino die Rolle der Idealisierung zu: Männer sind die Protagonisten, Helden und die Figuren, auf die Identifikationsmechanismen projiziert werden. Das klassische Hollywood-Kino wird durch den male gaze geformt, der die drei verschiedenen Arten von Blicken im Film dominiert und einnimmt. Diese Dreiteilung ist der dem Film inhärenten Struktur des Aufbaus, seinem Dispositiv, geschuldet: 1. der Blick der Kamera, die das filmische Geschehen aufzeichnet, 2. der des Publikums beim Betrachten des Endprodukts und 3. der Blick, den die Figuren innerhalb des Films miteinander wechseln. 4

Die patriarchale Grundstruktur der Gesellschaft bedingt, dass im Mainstream-Kino ebenfalls patriarchale Stereotypen und Grundsätze reproduziert werden. Dadurch werden Frauen und ihre Umwelt stets aus männlicher Perspektive gezeigt. Protagonistinnen sucht man vergebens, Frauen kommt nur eine Nebenrolle zu, welche die Diegese des Films in keinster Weise trägt oder vorantreibt. Frauen werden überwiegend nur in passiven Haltungen wie beim Zuhören gezeigt, während Männer den Ton angeben – oder Frauen dienen einzig und allein als Objekte visueller, sexualisierter Lust. Wichtig ist an dieser Stelle: Natürlich existieren Filme, in denen es starke weibliche Rollen gibt. Und natürlich gibt es Gegenbewegungen wie das feministische Kino, in dem weiblich geprägte Perspektiven, Handlungen und Wirkungsweisen thematisiert und dargestellt werden – allerdings ist das nicht die Norm.

Im Blockbuster-Kino hat so etwas schon gar keinen etablierten, festen Raum. Und welche Art von Kino wird vom Großteil der Menschen konsumiert: das feministische Independent-Kino oder Triple-A-Titel wie Transformers oder The Fast and The Furious? Beide Franchises sind übrigens mit die klassischsten Beispiele überhaupt für ein Kino, das vom male gaze praktisch überläuft. Die erste Szene in Transformers, in der die von Megan Fox gespielte Figur eingeführt wird, spricht ganz für sich. Dadurch, dass diese Art von Kino vom Großteil der Menschen konsumiert und als die Norm angesehen wird, werden andere Perspektiven und Darstellungen im Mainstream nur schwer akzeptiert. Daher lässt sich damit kein Geld verdienen – ein K.-o.-Kriterium für eine mögliche Veränderung.

Wir erinnern uns an Foucault und seine Ausführungen zu Machtbeziehungen, der Norm und Sanktionierungen, sollte man von dieser abweichen. Mulvey zeigt, dass der male gaze im Kino dafür sorgt, dass die gesellschaftliche ungleiche Beziehung von Mann und Frau in diesem Repräsentationsraum als Norm gesetzt ist und verstärkt wird. Die Welt des Kinos und die Realität festigen sich dadurch in einem geschlossenen System immer wieder selbst. 

Und nun?

Um zu zeigen, dass der male gaze in der Realität mehr Macht hat, als einem auf das erste darüber Nachdenken vielleicht bewusst ist, braucht es nicht viel. Auch, dass die durch ihn charakterisierten Wirkungsweisen nicht an den Rändern der Leinwand ein Ende finden, sondern tief in unserer Gesellschaft verankert sind, ist trauriger Fakt. Die Macht des gaze, des objektivierenden und reduzierenden Blickes, ist wahnsinnig groß. Was bedeutet das nun fürs alltägliche Leben?

Ein Bewusstsein zu schaffen für diese Umstände und Gegebenheiten, ist ein großer und wichtiger erster Schritt. Erst durch ein Bewusstwerden des Seins schafft man die Entscheidungsfähigkeit, etwas verändern zu können. Der Blick von einflussreichen Gruppen auf die Welt und alle möglichen Umstände hat große Bedeutung für die Wahrnehmung der Allgemeinheit. Daher ist die Macht des eigenen, individuellen Blicks so wichtig und entscheidend: Durch ihn kann jede:r Einzelne Beziehungen ausdrücken und Dynamiken verstärken. Wäre es nicht eine schöne Idee, sich bewusster zu sehen, statt sich nur gegenseitig zu beobachten? Auch wenn Satre vom Gegenteil überzeugt war: Vielleicht ist es möglich, sich im gegenseitigen Sehen ohne Wertung oder einen Gedanken sozialer oder genderspezifischer Stellung die Möglichkeit zu schaffen, abseits von Normen und Zwängen zu existieren. Indem man den Blick weitet statt beengt, kann ein schauendes Miteinander geschaffen werden, das ohne den Druck von Macht funktioniert – und verbindet statt separiert.

© Sokra 2022, https://sonjakrause-malerei.de/

1 Mulvey, Laura: Visual pleasure and narrative cinema. In: Screen 16,3, 1975, S. 6-18. Auf Deutsch u. a. erschienen als Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt a.M. 1994, S. 48–65. Die Zitate folgen im weiteren Verlauf der Publikation von Weissberg.
2 Mulvey (1975), S. 50.
3 Mulvey (1975), S. 56.
4 Mulvey (1975), S. 64.

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