Aufklärung: Was kann Stillleben?

Meist erscheint die Kunstwelt nur schwer zu durchdringen – was sich schrittweise ändern lässt. Ready für den Stillleben-Crashkurs für mehr Zugang zur Kunstwelt?

Beim Wort Stillleben denken die meisten an eine Schale Obst oder an eine Blumenvase. Wer einen ambitionierten Kunstlehrer oder eine interdisziplinär eingestellte Deutschlehrerin hatte, bei dem ploppt das Wort Vanitas (=Vergänglichkeit) auf, konnotiert mit Langeweile und Totenschädel. Ja, in erster Linie weichen diese Vorstellung nicht von der Beschreibung eines Stilllebens ab, aber da ist so viel mehr zu entdecken! 

Obgleich der Inhalt von Stillleben unspektakulär erscheint, ist dessen Entwicklung beachtlich: Wie steigt ein Arrangement von aufgeschlagenen Büchern, Vasen samt Blumen oder halbaufgegessenen Tellern vom Rande einer Szene zum eigenständigen Bildmotiv in der europäischen Malerei auf? Wobei bedacht werden muss, dass zum einen in Auftrag gegebene Gemälde und deren Materialausgaben luxuriöse und kostspielige Anschaffungen waren. Zum anderen herrschen auch in der Kunst Hierarchien: So nehmen Porträts von berühmten Menschen, historische Schlachten oder religiöse Figurenmalereien einen deutlich höheren Stellwert ein als reine Landschaftsbilder. An ein Stillleben war bis ins 16. Jahrhundert noch gar nicht zu denken.

Historischer Hintergrund: Wirtschaftlicher Aufschwung und schleichende Emanzipation

Zwar tauchen schon in der italienischen Renaissance vereinzelt kleinere Gemälde mit solchen Dinginseln als selbstständiges Bildmotiv auf1, aber in der Forschung wird Flandern (= Gebiet in Nordfrankreich, Nordbelgien, Südniederlande) „als Ursprungsland der neuzeitlichen Stilllebenmalerei“2 bezeichnet. Das Stillleben entwickelte sich schleichend im 16. Jahrhundert aus der sog. Genremalerei (= Alltagsszenen) heraus. Neben religiösen Bildern werden vermehrt ausufernde Volksfeste und Trinkgelage, aber auch Markt- und Küchenszenen mit aufgeschütteten Obst, Gemüse, Pasteten, Fleischstücken und Fischen gezeigt.3

Die Faszination für dargestelltes Essen, Blumen oder Schmuckstücke kommt nicht von ungefähr: Durch den See- und Geldhandel erlebte die Niederlande im 16. Jahrhundert einen wirtschaftlichen Aufschwung und damit verbunden einen noch nie dagewesenen Reichtum und Wohlstand.4 Hieraus entwickelte sich eine breite Mittelschicht, die ihren erworbenen Wohlstand auch adäquat verewigen wollte und Künstler:innen mit der Inszenierung ihres Besitzes beauftragte5 – fast schon wie das Instagram des 16. Jahrhunderts. Gleichzeitig verbesserten sich die Lebensbedingungen insbesondere durch optimierte Anbautechniken.6 Das neue Sortiment auf dem Markt muss einen enormen Eindruck auf die Bevölkerung gemacht haben, der sich in den Kunstwerken niederschlägt.

Beherrschten anfangs Menschen und deren Alltag noch den Bildinhalt, werden diese über die Jahrzehnte hinweg sukzessiv an den Rand gedrängt, um nicht zu sagen von den aufgebahrten Lebensmitteln weggeschwemmt. Die Körbe mit Obst und Gemüse sowie aufgehängtes Schlachtvieh emanzipieren sich zum Star des Gemäldes. Die neue Gattung Stillleben wird ein Erfolg und verbreitet sich in ganz Europa und findet im 17. Jahrhundert seinen Höhepunkt.

Aussagekraft von Stillleben: Zwischen den Zeilen lesen

Was kann denn nun ein Stillleben? Was kann ein Arrangement, das aus seinem ursprünglichen Alltagskontext herausgenommen und extrahiert auf einem Podest präsentiert wird? Ab diesem Punkt ist der Interpretationsspielraum offen – was das Reizvolle an Stillleben ausmacht und gleichzeitig ein einsteigerfreundliches Übungsfeld für eine Bildbetrachtung ist. Stillleben können ästhetisch ansprechend sein, können aber auch sehr symbolträchtig und doppeldeutig interpretiert werden. Das Dargestellte bietet mit all seinen Details und Querverweisen eine never-ending-story. Als Anregungen werden hier einige wiederkehrende Motive und mögliche Gedankenspiele aufgezeigt.

Vergänglichkeit

Von blühenden Blumen, frischen Pfirsichen über polierte Mandolinen bis hin zu Totenschädeln – all das zeugt von Kurzlebigkeit und wird in seiner Bedeutung nach wie vor eindeutig verstanden. Man muss nur die Playtaste im Kopf drücken und schon welken die Blumen, schimmeln die Pfirsiche, verklingt die Musik und der Mensch ist gestorben #vanitas. Heute wie damals erinnert es uns daran, das Leben entweder in seinen Freuden zu genießen à la Carpe Diem oder ermahnt uns, sich nicht (nur) dem Genuss hinzugeben. Stattdessen sollen wir uns auf das Immaterielle und Unsterbliche besinnen. Letztgenannte Lesart wurde überwiegend im christlichen Kontext verwendet, um auf den Sittenverfall der Menschen hinzuweisen und diese zu maßregeln.  

Statussymbol

Ja, man kann mit allem protzen, bspw. auch mit einem erlegten Hasen. Jadgstillleben, also zur Schau gestellte Beute, sind ein Ausdruck von sozialem Status der Auftraggebenden, da eine Jagdberechtigung im 17. Jahrhundert ein Privileg der weltlichen Aristokratie war.7

Aber es gibt noch andere Statussymbole, die vor allem deren Handelsmacht bezeugen. Ab dem 17. Jahrhundert vergrößerte sich der geografische Transaktionsraum der Niederlande und die dargestellten Objekte wurden immer exotischer.8 Neben Prunkkelchen, Perlenketten, Juwelen oder Zitrusfrüchten lassen sich auch Gewürze, orientalische Teppiche oder chinesisches Porzellan aus der Wan-Li-Ära finden.Ein weiteres, für uns unbedeutend erscheinendes Symbol sind Blumen. Diese avancierten im 16./17. Jahrhundert zu prestigeträchtigen Züchtungsobjekten. Insbesondere Tulpen, die den ersten Börsencrash der Weltgeschichte verursachten10, zählen zu den beliebtesten im bunten Bouquet. 

Den Pflanzenkenner:innen unter uns wird schnell auffallen, dass die in ein und demselben Stillleben arrangierten Blumen eigentlich in unterschiedlichen Jahreszeiten blühen. Gleiches gilt auch für das Aufgebot von Obst und Gemüse, die zu unterschiedlichen Saisons reifen und geerntet werden. Es handelt sich in den meisten Fällen also um Phantasmen.11 Zumal das mächtige Angebot an Lebensmitteln, unter denen sich veredeltes Gemüse wie Blumenkohl und Kürbisse mit der größten Selbstverständlichkeit einfinden, längst nicht der Realität entsprach und erst recht nicht für alle zugänglich war.12 

Naturtreue und Illusionen

Ein Qualitätsmerkmal von Stillleben ist die naturgetreue Darstellung.13 Dieser Anspruch umfasst nicht nur Blumen und Obst, sondern auch Materialien wie Glas, Metall, Keramik oder Stoffe jeglicher Webart. D.h., Stillleben waren auch eine malerische Übung für Künstler:innen. Die transparente Darstellung, Spiegelungen und Reflexe von Glas gestaltete sich als besonders herausfordernd.14

Die gesteigerte Form der Naturtreue mündet in illusionistischen Darstellungen, um die Betrachtenden zu täuschen (= Trompe-l’œil). So ragen Vorhangzipfel oder Papierzettel über die gemalte Brüstung und sehen dabei überzeugend echt aus. Claudia Fritzsche ist der Ansicht, dass durch den Täuschungseffekt Bild- und Betrachterraum verbunden werden und eine Kommunikation in diesem Raum entstünde.15

Zeitzeugen und Biografien

Stillleben können auch als Spiegel der Gesellschaft dienen, der einen Einblick in den Alltag von Menschen bietet. Wie lebten die Menschen vor 400 Jahren und was erachteten Künstler:innen und Auftragebende als abbildenswert? Stillleben zeigen daher Wohnausschnitte von protzigen Hallen mit Luxusgütern, mittelständische Küchen oder ärmliche Nischen mit karger Ausstattung – kurz um: Alles ist möglich. Wie in heutigen Einrichtungskatalogen kann hierbei abgelesen werden, welche Trends und Geschmäcker vorlagen.16 Auch kann beobachtet werden, ob und welche Religion bis zu welchem Grad ausgelebt wurde. Oder es sind Informationen enthalten über persönlich favorisierte Alltagsgegenstände, wertvoll glänzend bis schäbig zerfleddert.

Ein häufiges Motiv sind dabei Tischstillleben, im Speziellen die Darstellung von Mahlzeiten.17 Diese kommen in allerlei Stadien vor – von gerade aufgetischt, halb verzehrt oder bis auf die Knochen abgenagt. Neben einer möglichen Vanitas- oder Carpe Diem-Deutung kann ein gesellschaftlicher Anlass erzählt und/oder daran erinnert werden. Klingt komisch? Aus denselben Gründen fotografieren Menschen heute ihr Essen. 

Wir erhalten nicht nur Einblick in private Räume, sondern auch in die Arbeitswelt. Neben Marktverkäufen werden Tische von Geldwechslern, Ateliers von Kunstschaffenden oder Handwerkskammern wie Momentaufnahmen eingefangen.18 Stillleben können gemalte Biografien oder Tagebucheinträge sein, die gesellschaftliche und alltägliche Prozesse festhalten. 

Symbole und Weltverständnis

Und nun etwas fortgeschrittener: Gemüse, Obst, Blumen und Tiere wurden mit einer symbolischen Botschaft aufgeladen, sodass der Inhalt ohne handelnde Menschen vermittelt werden kann. Diese sind in unserem heutigen Verständnis nicht gängig und daher schwerer zu decodieren. Aber auch hier kann man sich eine Vokabelliste erstellen, bspw: Trauben = Christus; Nelke = Kreuzigung; Erdbeeren = Paradies oder Johannisbeeren = Johannes der Täufer.19 Dennoch bringt es nicht viel die Symbole nur zu identifizieren, sondern es gilt die Deutungen miteinander zu verbinden.  

Zwar sind die christlichen Symbole relativ präsent, aber über Stillleben kann auch das Weltverständnis zum Ausdruck gebracht werden. Dieses ist u.a. vom antikischen Ordnungsschemata der Natur geprägt.20 Beliebte Motive sind die vier Jahreszeiten oder die vier Elemente. Letzteres wird z.B. durch Vögel (Luft), Meeresfrüchte (Wasser), Gemüse (Erde), Krüge oder Porzellanschalen (mithilfe des Feuers gebrannt) dargestellt.21 Neben Naturkreisläufen und Elementen können auch die 5-Sinne gezeigt werden, bspw. durch bestimmte Tiere, die besonders für ihr gutes Gehör oder Sehen herausstechen, oder Mahlzeiten, die durch ihre geschmackvolle Inszenierung den Speichelfluss der Betrachtenden anregen.22

Zugang to go: Was bringt uns das jetzt neben einem Carpe Diem?

Dieser Artikel soll nicht vorrangig das Image von Stillleben polieren, sondern generell den Blick für Kunst sensibilisieren. Beim nächsten Museumsbesuch in einer Stillleben- oder alten Meisterausstellung lohnt es sich von Untersuchungskriterien wie „Würd ich mir das ins Wohnzimmer hängen?“ oder „Was könnte der Maler oder die Künstlerin damit gemeint haben?“ abzulösen. 

Stattdessen kann die Betrachtung folgender Aspekte gewinnbringender sein, indem ihr… 

a.  … das malerische Können begutachtet: z. B. Spiegelungen im Glas, die Haptik von Stoffen, Plastizität von Gegenständen etc.

b. … die Inszenierung analysiert. Einstiegsfragen könnten sein: Wird mit Licht/Schatten gearbeitet? Welche Farben werden verwendet? An welcher Stelle ist es positioniert? Wie sieht der Bildraum aus (Fläche vs. Bildtiefe)?

c. … untersucht, was dargestellt ist und warum ausgerechnet diese Dinge ausgewählt wurden. Bleibt dabei nicht bei einer Deutung, sondern probiert auch die gegenteilige Position aus: Bspw. können Statussymbole Reichtum zeigen, die protzende Üppigkeit kann aber auch als Ermahnung und als Aufruf zur Mäßigkeit verstanden werden.  

d. … überlegt, ob und welche Situation erzählt wird. Wer lebt hier und wie passen diese Dinge in das Narrativ oder in die Biografie? 

e. … auf die Anzeigetafel daneben linst: Wer hat das Stillleben wann gemalt? Vielleicht können die einen oder anderen Geschichtsnerds über den historischen Kontext einen Zugang zum Bild finden.

f. … das Ausstellungskonzept im Auge behaltet und dieses als Ganzes betrachtet: Taucht das Motiv in anderen Werken auf. Wird es dort unterschiedlich/ähnlich dargestellt? Verändert es sich über einen gewissen Zeitraum? Wenn ihr auf Ungereimtheiten im Konzept stoßt: Seid mutig und formuliert Kritik, lasst euch nicht von der Einstellung „Ich hab von Kunst keine Ahnung“ einschüchtern.

Bild: sokra, 2023: https://sonjakrause-malerei.de

1 Mireille Favier, Kunst-Genuß. Ein Dialog, in: L’art Gourmand. Stillleben für Auge, Kochkunst und Gourments von Aertsen bis Van Gogh, Hg. von Paul Beusen [u.a.], Ausst.-Kat., Köln 1997, S. 13-21, hier S. 17.

2 Norbert Schneider, Viktualienstillleben und Eßkultur. Zur Rekonstruktion ästhetischer und alltgaspraktischer Kontexte, in: L’art Gourmand. Stillleben für Auge, Kochkunst und Gourments von Aertsen bis Van Gogh, Hg. von Paul Beusen [u.a.], Ausst.-Kat., Köln 1997, S. 23-28, hier S. 23.

3 Ebd., S. 23f.

4 Ebd., S. 23.

5 Hella Robels, Frans Snyders. Stilleben- und Tiermaler (1579-1657), München 1989, S. 14.

6 Schneider 1997, S. 23.

7 Gerrit Stevens, Ausgerechnet Stillleben, in: Still bewegt. Videokunst und alte Meister, Hg. von Andrea Firmenich und Johannes Janssen, Ausst.-Kat.,  Bad Homburg 2013, S. 31-42, hier S. 39.

8 Claudia Fritzsche, Der Betrachter im Stillleben, Raumerfahrung und Erzählstrukturen in der niederländischen Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2010, S. 222. 

9 Ebd., S. 175. 

10

https://www.wirtschaft-global.de/der-erste-borsencrash-der-weltgeschichte.html (Abgerufen am 17.04.2023)

11 Sybille Ebert-Schifferer, Die Geschichte des Stillebens, München 1998, S. 43.

12 Ebd., S. 43.

13 Stevens 2013, S. 34.

14 Ebd., S. 38.

15 Fritzsche 2010, S. 36.

16 Ebd., S. 223.

17 Ebd., S. 207ff.

18 Ebd., S. 234

19 Robels 1989, S. 246

20 Ebd. S. 25. 

21 Christiane Stukenbrock, Märkte, Vorratskammern und Küchen in der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts, in: L’art Gourmand. Stillleben für Auge, Kochkunst und Gourments von Aertsen bis Van Gogh, Hg. von Paul Beusen [u.a.], Ausst.-Kat., Köln 1997, S. 29-39, hier 31f.

22 Robels 1989, S. 25. 

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