Jesidentum: Religion der Vertriebenen

Im Namen des Dschihads wurden 2014 in Sindschar hunderttausende Jesid:innen getötet, versklavt oder vertrieben. Nun hat Deutschland dies als Genozid anerkannt. Doch welche Zukunft steht den verbliebenen Opfern offen?

03. August 2014 – die Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staats (IS) stürmt das jesidische Siedlungsgebiet um Sindschar im Nordirak.1 Sie ließ nichts als zerstörte Städte und Dörfer, vermintes Gelände und vergiftete Wasserquellen zurück.2 Seit 2014 wurden hunderttausende Jesid:innen vertrieben, über 5.000 getötet, 7.000 verschleppt – davon 6.000 Kinder und Frauen. Sie wurden massenhaft Opfer von Vergewaltigungen und als (Sex)sklav:innen verkauft.3 Noch heute werden laut der jesidischen Menschenrechtsorganisation Yazda fast 3.000 Frauen vermisst. Man vermutet sie entweder im Flüchtlingslager al-Hol in Syrien oder bei ihren Peinigern, die sie aus Angst, ihre aus Vergewaltigungen hervorgegangenen Kinder zurücklassen zu müssen oder von ihrer Familie verstoßen zu werden, nicht verlassen können.4

Das Jesidentum ist eine autonome, monotheistische Religion, deren Wurzeln bis ca. 2000 Jahre v. Chr. zurückreichen. Zentrale Figuren sind der allmächtige Schöpfergott „Ezid“ und der „Engel-Pfau“, der im Kurdischen „Tausi Melek” genannt wird. Tausi Melek ist der oberste von sieben auserkorenen Engeln, der Gottes Plan und Werk auf Erden ausführt. Im Gegensatz zum Christentum lehnt das Jesidentum den Dualismus von Gott und Teufel ab und verneint eine Höllen-Paradies-Vorstellung.5

Das Jesidentum verfügt über kein schriftliches Hauptwerk wie den Koran im Islam oder der Thora im Judentum. Glaubensvorstellungen und religiöse Traditionen werden seit Jahrhunderten ausschließlich mündlich überliefert. Aus diesem Grund werden Jesid:innen in ihrem vorwiegend muslimisch dominierten Umfeld häufig als „Ungläubige“, „Götzen-“ oder „Teufelsanbeter“ denunziert.6

Die Vertriebenen

Bereits seit dem 13. Jahrhundert werden im Nahen Osten – der Ursprungsregion der jesidischen Religion – dem Jesidentum Angehörige verfolgt. Die Folge: Immer wieder sind sie gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Allein in diesem Jahrhundert zeichneten sich bereits drei große Fluchtbewegungen ab. Neben dem Völkermord im Jahr 2014 in der Region um Sindschar führte 2003 die Verurteilung und Hinrichtung des diktatorischen irakischen Premierministers Saddam Husseins aufgrund eines Massakers an Schiiten und Kurden zu einer Massenmigration von im Irak lebenden Jesid:innen. Einen weiteren Flüchtlingsstrom verursachte 2011 der Bürgerkrieg in Syrien, welcher bis heute andauert. Dieser hat nicht nur die Destabilisierung des gesamten jesidischen Siedlungsgebiets zur Folge, sondern auch das Erstarken von Terrormilizen wie dem sogenannten Islamischen Staat, welches erst das Massenmorden in der Region um Sindschar im Jahr 2014 ermöglichte.7

Reform der Reform?

Vor etwa 800 Jahren reformierte Scheich Adi das Jesidentum, indem er die jesidische Gesellschaft in drei Kasten einteilte. Während heute rund 80 % der Jesid:innen der Kaste der Laien (Mirîden) angehören, teilt sich der Rest der Glaubensgemeinschaft auf zwei Priesterkasten auf – den Scheichen mit circa 15 % und der Kaste der Pîren, der ungefähr fünf Prozent der Jesid:innen angehören.

Nicht nur Eheschließungen außerhalb der jesidischen Gesellschaft, sondern auch zwischen den Kasten sind verboten. Darüber hinaus zählt als Jesid:in nur, wer sowohl eine jesidische Mutter als auch einen jesidischen Vater hat. Kinder mit nur einem jesidischen Elternteil werden aus der Glaubensgemeinschaft verstoßen. Darüber hinaus ist eine Konversion oder Missionierung zum Jesidentum ausgeschlossen. Allerdings verursacht die kulturelle und religiöse Dynamik der jesidischen Diaspora Transformationsprozesse von Jahrhunderte andauernden Kastenvorschriften und Grundpflichten, die Veränderungen von jesidischen Religionspraxen und Gesellschaftsvorstellungen anstoßen.9

Sindschars Leid bleibt unvergessen: Anerkennung des Genozids am Jesidentum

Nun hat der Deutsche Bundestag die Gräueltaten, die an den Jesid:innen begangen wurden, nach fast zehn Jahren als Genozid anerkannt. Am 19. Januar 2023 stimmte das Parlament fraktionsübergreifend einem gemeinsamen Antrag der Ampelregierung und der CDU/CSU-Fraktion zu.10 

Viele Jahre sind seit dem Massenmorden vergangen. Doch noch immer gleicht die Stadt Sindschar einer Trümmerlandschaft und wird weiterhin umkämpft.11 In seiner Rede zur Anerkennung der IS-Verbrechen an den Jesid:innen als Völkermord betonte Grünen-Abgeordneter Max Lucks, dass auch Deutschland in der Schuld der jesidischen Glaubensgemeinschaft stehe. Er räumt ein, dass Deutschland nicht gehandelt habe, als es darauf ankam und die internationale Gemeinschaft lange untätig geblieben sei, um das Leid der verfolgten Minderheit zu beenden. Der Bundesrepublik, welche mit circa 200.000 Personen die größte Diaspora an Jesid:innen beherbergt, komme eine besondere Verantwortung entgegen, so Michael Brand (CDU/CSU).12

Aus diesem Grund betont Außenministerin Anna-Lena Baerbock (Grüne/Bündnis 90) in ihrer Rede anlässlich der Anerkennung und des Gedenkens an den Völkermord an den Jesid:innen, dass der Auftrag an die Bundesregierung, an Deutschland, nicht nur darin bestünde zu gedenken und nach Vermissten zu suchen. Er bestünde auch darin, immer wieder zu reflektieren: „Was hätten wir tun können? Was können wir tun, um zukünftige Völkermorde zu verhindern?“13 Vorbildlich habe der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne/Bündnis 90) gehandelt.14

In einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“15 wurde auf seine Initiative hin, ohne das Zutun der Bundesregierung, trotz Flüchtlingskrise im Jahr 2015 ein Sonderkontingent für das Land Baden-Württemberg beschlossen, das vorsah, Frauen und Kinder aufzunehmen, die Opfer der Terrormiliz des sogenannten IS wurden.16 1.100 Schutzbedürftige aus dem Nordirak – davon 600 Minderjährige – fanden unter größter Geheimhaltung, verteilt auf 21 Städte und Dörfer Zuflucht im westeuropäischen Land. Ein Großteil von ihnen fand Zuflucht in Baden-Württemberg. Aber auch Schleswig-Holstein und Niedersachen erklärten sich bereit, sich am Sonderkontingent zu beteiligen.17

Zukunftsperspektive Irak – wie kann auf Krieg Frieden folgen?

Vom 07. bis zum 10. März dieses Jahres reiste Außenministerin Anna-Lena Baerbock erstmals in den Irak, wo sie jeweils mit dem irakischen Premier- und Außenminister Gespräche über eine gemeinsame Zusammenarbeit und Stabilisierungsmaßnahmen des krisengeschüttelten Landes führte.18

Bereits seit 2015 zeigt die Bundesrepublik im Irak militärisches Engagement im Rahmen einer internationalen Anti-IS-Koalition und unterstützt seit 2020 die NATO-Misson Irak, wobei irakische Streit- und Sicherheitskräfte ausgebildet werden, um die Stabilität des Landes eigenständig zu sichern. Darüber hinaus leistet Deutschland auch finanzielle Unterstützung, sodass für die Vertriebenen eine Rückkehrperspektive geschaffen werden kann. Neben der Beteiligung am Fonds für Irak (FFK) investiert die Bundesrepublik zusätzlich 500 Millionen Euro in den Wiederaufbau der Region um Sindschar.19

Auch bei der juristischen Aufarbeitung von IS-Verbrechen zeigt Deutschland Eifer. Immer mehr in die Bundesrepublik zurückkehrende Mitglieder des sogenannten Islamischen Staats müssen sich der deutschen Justiz stellen. Wurde erst Ende März eine IS-Rückkehrerin zu zwei Jahren Haft verurteilt, folgt nun wenige Wochen später ein weiterer Prozess gegen eine Deutsch-Kurdin, die sich dem IS angeschlossen hatte.20

Sindschar: alte Heimat – neue Heimat?

Weltweit gibt es circa eine Millionen Jesid:innen, deren ursprüngliches Herkunftsgebiet der Nahe Osten ist. Mit circa 200.000 Menschen beheimatet die Bundesrepublik die weltweit größte Diaspora an Jesid:innen. Viele von ihnen leben bereits in dritter beziehungsweise vierter Generation in Deutschland. Allerdings ist der Wunsch vieler Geflüchteter groß, in ihr Hauptsiedlungsgebiet in der nordirakischen Provinz Ninive zurückzukehren. Dort lebten vor dem Beginn des Sindschar-Genozids 2014 schätzungsweise zwischen 600.000 und 700.000 Menschen.21 Ob die seit Jahrhunderten verfolgte religiöse Minderheit jemals wieder ohne Furcht in ihre Heimat zurückkehren kann, ist fraglich. Zwar versucht die internationale Gemeinschaft Rückkehrperspektiven für das Volk der Jesid:innen zu schaffen, doch ob ihre Bemühungen nachhaltig fruchtbar sein werden, wird die Zukunft zeigen.

Doch bis es soweit ist, sollte die deutsche Politik und Gesellschaft versuchen, den Geflüchteten eine neue Heimat zu geben. Die Erfahrungen mit vor allem türkischen Gastarbeiter:innen im 20. Jahrhundert haben gezeigt, dass aus einem nicht langfristig angedachten Verbleib aus den unterschiedlichsten Gründen ein dauerhaftes Bleiben werden kann. Durch erleichterten Zugang zu Sprachkursen, zu sozialen Hilfsangeboten und zum Arbeitsmarkt könnte so der Spagat gelingen. Irgendwo zwischen alter und neuer Heimat, unabhängig davon, wo sie sein wird.

Bild: sokra, 2023: https://sonjakrause-malerei.de

1 https://www.tagesschau.de/investigativ/fakt/jesiden-is-107.html. Abrufdatum: 13.04.2023.

2 https://www.auswaertiges-amt.de/de/service/laender/irak-node/jesiden-irak/2574088?enodia=eyJleHAiOjE2ODEwMjc3MzIsImNvbnRlbnQiOnRydWUsImF1ZCI6ImF1dGgiLCJIb3N0Ijoid3d3LmF1c3dhZXJ0aWdlcy1hbXQuZGUiLCJTb3VyY2VJUCI6Ijc3LjI1LjExLjEyNSIsIkNvbmZpZ0lEIjoiOGRhZGNlMTI1ZmQyYzM5MzJiOTQzYjUyZTlkMmNkNjUwNTc1NGUxNjIyMTJhMmNlMWJiNWFmMTVjMGQ0YmJmZSJ9.Vyvu3xYBuyXXzjczuXjWp-xE57L7_0eu_gjsmQFF8gk=. Abrufdatum: 13.04.2023.

3 https://www.tagesschau.de/investigativ/fakt/jesiden-is-107.html. Abrufdatum: 13.04.2023.

4 https://www.spiegel.de/politik/ausland/islamischer-staat-jesiden-verweigern-kindern-von-is-ueberlebenden-die-rueckkehr-a-1264828.html. Abrufdatum: 13.04.2023.

5 https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/270902/die-jesiden/. Abrufdatum: 13.04.2023.

6 Ebd.

7 Ebd.

8 Ebd.

9 Ebd.

10 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw03-de-jesiden-927032. Abrufdatum: 13.04.2023.

11 https://www.tagesschau.de/ausland/asien/nordirak-sinjar-jesiden-101.html. Abrufdatum: 13.04.2023.

12 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw03-de-jesiden-927032. Abrufdatum: 13.04.2023.

13 https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/anerkennung-voelkermord-an-den-jesidinnen-und-jesiden-/2574268?view=. Abrufdatum: 13.04.2023.

14 Ebd.

15 Ebd.

16 https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/meldung/pid/wir-koennen-wieder-leben-jesidinnen-und-ihr-leben-im-suedwesten. Abrufdatum: 13.04.2023.

17 https://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/baden-wuerttemberg-rettet-ueber-tausend-jesidinnen-14503598.html. Abrufdatum: 13.04.2023.

18 https://www.auswaertiges-amt.de/de/service/laender/irak-node/aussenministerin-baerbock-irak/2586336. Abrufdatum: 13.04.2023.

19 https://www.auswaertiges-amt.de/de/service/laender/irak-node/jesiden-irak/2574088?enodia=eyJleHAiOjE2ODEwMjc3MzIsImNvbnRlbnQiOnRydWUsImF1ZCI6ImF1dGgiLCJIb3N0Ijoid3d3LmF1c3dhZXJ0aWdlcy1hbXQuZGUiLCJTb3VyY2VJUCI6Ijc3LjI1LjExLjEyNSIsIkNvbmZpZ0lEIjoiOGRhZGNlMTI1ZmQyYzM5MzJiOTQzYjUyZTlkMmNkNjUwNTc1NGUxNjIyMTJhMmNlMWJiNWFmMTVjMGQ0YmJmZSJ9.Vyvu3xYBuyXXzjczuXjWp-xE57L7_0eu_gjsmQFF8gk=. Abrufdatum: 13.04.2023.

20 https://www.tagesschau.de/investigativ/fakt/jesiden-is-107.html https://www.sueddeutsche.de/panorama/prozesse-duesseldorf-mutmassliche-is-terroristin-gestaendnis-bei-prozessauftakt-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-230403-99-197514. Abrufdatum: 13.04.2023.

21 https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/270902/die-jesiden/. Abrufdatum: 13.04.2023.

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