Liebeserklärung an: das Ruhrgebiet

Oft unterschätzt hat das Ruhrgebiet einiges – eigentlich alles – zu bieten. “Woanders iss auch scheiße” war gestern! Eine Liebeserklärung an eine ganze Region, ihre Menschen und ihre Sprache.

Früher war die Luft hier dreckig. Früher waren die Gesichter schwarz voll Staub. Früher war es hier grau und zugebaut. 

Freitag, 17:38. 

Feierabend. Eigentlich hättest du schon vor ein paar Minuten los gemusst. Aber du hast dich mal wieder mit deiner Kollegin Inge verquatscht. Du hattest von deinem anstehenden Wochenende berichtet. Jetzt bist du aber unter Zeitdruck. Inge verabschiedet dich mit den Worten „Hömma, dann will ich dich auch nich weiter aufhalten, Jung. Viel Spaß und pass auf dich auf, ne!“. Du lächelst und schwingst dich auf dein Rad. Im Himmelpanorama mit alten Hochöfen und Schloten im Vordergrund schaffst du es gerade noch rechtzeitig zum Training. Dein Trainer Uwe begrüßt dich: „Par Minuten länger und dat hätt aber nen Kasten gegeben“. Er klopft dir auf die Schulter. Das Fußballtraining macht wie immer Spaß. Das Trainingsspiel ist aber verkürzt. Denn heute nach einer anstrengenden Saison steht die Saisonabschlussfeier an. Stattfinden wird sie in einem der nahegelegenen großen Parks. Es wird gegrillt. Die Auswahl ist riesig. Mo hat Sucuk mitgebracht, Dario Cevapcici. Pawel Haselnussvodka, Napo selbstgemachten Couscous. Zum Dessert gibt es Tiramisu nach dem Rezept von Gios Oma und Yasars Baklava. Du selbst hast natürlich Kartoffelsalat mitgebracht. Es ist ein schöner Abend, langweilig wird es nicht. Weder auf dem Teller, bei den Köstlichkeiten aus aller Welt, noch daneben. Es wird geflachst und Gesprächsthemen gehen nicht aus. Am späten Abend fällst du in dein Bett.

Samstag, 9:06.      

Aufstehen. Du hast einen leicht schweren Kopf von gestern. Aber Müdigkeit gibt es nicht, du hast versprochen, heute Vormittag Omma und Oppa im Schrebergarten zu besuchen. Kurz bevor du los willst, klingelt dein Handy. Omma will, dass du für den Kaffee noch Milch mitbringst. Die hatte sie vergessen. Klar, kein Problem. Auf deinem Weg kannste ja beim Willi anne Bude vorbei schauen. Als du an seinem Kiosk ankommst, steht dort ein Rentner. Ein zweiter kommt hinzu. 

„Ach Mensch, Jupp! Lange nicht gesehen, wie isset?“ 

„Muss, ne. Und bei dir?“ 

„Ja, muss. Hömma! Wo ich dich schonmal sehe,  haste morgen kurz nen Stündchen Zeit, vorbei zu komm? Ich muss nen Schrank aufbauen und weißt ja, ich hab et am Rücken.“

„Klar, mach ich“

Während die beiden noch ein bisschen klönen, winkt Willi dich zu ihm rüber. Du orderst deine Milch. Als Willi die Milch aus dem Kühlschrank geholt hat, legt er eine Tafel Schokolade dabei.

„Geht aufs Haus. Und? Fährste nachher hin?“

„Sicha“

„Na, dann hoffen wa mal, dass die nich wieder aufn Arsch bekommen“

Du nickst.

Bei Omma und Oppa ist es schön, wie immer. Lange kannst du aber nicht bleiben. Gegen halb eins musst du zum Bahnhof. Oppa verabschiedet dich mit den Worten: „Na hoffentlich bekommen die et heute ma wieder hin!“. Am Bahnhof triffst du zwei gute Kumpel. Um dich herum circa hundert Leute, die die gleichen Farben tragen wie du. In dem Zug, den ihr nehmt, sitzen nochmal so viele drin. In jeder Stadt – und davon wird es viele geben in den nächsten dreißig Minuten Zugfahrt – wird der Zug voller. An eurem Ziel angekommen ist er ein einziges Meer an Menschen mit denselben Farben, derselben Mission. 

Auf euren Plätzen im Stadion angekommen, es wird gestanden – natürlich – bist du umringt von Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Hier der Anwalt, da der Arbeitslose. Dort die Frührentnerin, drüben der Handwerksmeister. Links eine Gruppe Studierende, rechts steht ein junger Lehrer und neben ihm eine Krankenschwester. Normalerweise würden all diese Menschen nichts gemeinsam haben, sich in ihrem Alltag nicht streifen. Hier sind sie eins und verbringen zwei Stunden voller Leidenschaft und Lautstärke, Jubel und Ärger miteinander. Was es allen bedeutet, wie laut es ist, wie emotional. Das gibt es eigentlich nur hier. Egal ob Königsblau, Gelb-Schwarz, vonner Castroper, Zebra, Rot-Weiß oder Schwarz-Weiß. 

Früher Abend, irgendwas gegen halb sieben. 

Du bist wieder am Bahnhof und verabschiedest dich von deinen Kumpels. Schnell geht es nach Hause, viel Zeit hast du nicht, bevor du wieder los musst. Als du zuhause ankommst, vergehen trotzdem 30 Minuten, bis du duschen gehen kannst. Erst musst du mit deinem Vater, der natürlich die gleiche Leidenschaft teilt, das Spiel nochmal durchgehen. Fast kommst du zu spät zum Treffpunkt. 

Ihr trefft euch draußen. Deine Freunde warten schon. Auf diesen Abend hast du dich seit Wochen gefreut. Ja, es gibt viele hier davon. Aber eure Lieblingsband spielt wieder bei euch in der Nähe. Sie ist keine der ganz großen Bands, sondern macht regelmäßig Locations mit einigen hundert Leuten voll. Keine Arenen. Aber genau das macht es aus. Denn heute sind sie in einer dieser Locations. Am Eingang ist bereits alles rot erleuchtet. Links Backsteine, rechts Backsteine. Ein paar Meter weiter hinten ist der Eingang in eine alte Fabrikhalle. Zwischen Bühne, Stehtischen und Tanzfläche stehen alte Kessel. Doch ihr seid heute im Open-Air Bereich. Lange Metalltreppen, ein alter Schlot. Alles ist      rot, grün und blau angestrahlt. Du denkst dir, ob es ein besseres Ambiente geben kann für ein Konzert. Du kommst auf nichts. Sicher, in den Nachbarstädten gibt es einige ähnliche Orte. Aber besser? Nein.

Samstag, 22:16 Uhr.      

Spontan entscheidet ihr euch nach dem Konzert noch in die Kneipe um die Ecke zu gehen. Da du aus einer anderen Stadt kommst, bist du hier in der Ecke noch nicht häufig gewesen. Doch als du in die Kneipe kommst, fühlst du dich direkt heimisch. Das Ambiente: Schlicht, klassisch. Manche mögen es als etwas altbacken bezeichnen, du findest es heimelig. Einer deiner Freunde geht an die Theke: „Mahlzeit! Machse mal eine Runde Pilsken für uns?“ „Sicha, Chef“ entgegnet der Barmann. Wie du später erfährst, ein in dieser Stadt wie ein bunter Hund bekanntes Original, ursprünglich aus Irland. An den Tischen vor der goldenen Tapete sitzt ein Publikum, dass in seiner Durchmischung dem im Stadion in wenig nachsteht. An den Wänden sind nicht zu aufdringlich, aber doch präsent die Insignien der Helden von damals. Bilder von Hochöfen, Schlägel und Eisen. Zwei sich offensichtlich hierhin „verirrte“ Touristen aus Süddeutschland in den Trikots der Mannschaft, gegen die dein Team vorhin noch gespielt hat kommen herein. Reaktion: Kurz werden sie beäugt, dann werden sie von einer Gruppe an einem anderen Tisch mit den Worten: „Komm, durch dat Spiel vorhin seid ihr ja schon genug gestraft. Außerdem müsst ihr ja ma richtiget Bier trinken, ich geb ne Runde“ eingeladen.

Im Hintergrund läuft Musik, die man genau wie diese Szenerie hier mit demselben Adjektiv zusammenfassen kann: zeitlos. Beatles, Stones, Elvis, Queen und – wer nicht fehlen darf – Herbert. Auch bei euch dauert es nicht lange, bis ihr mit anderen ins Gespräch kommt. Eine Alternative dazu gibt es eh nicht. Denn so gut wie die Kneipe besucht ist, so klein ist sie auch. Zu euch an den Tisch kommt eine Gruppe, die – wie ihr erfahrt – sich noch ausm Abi kennen. Alle Mitte / Ende 20. Sie studieren alle oder sind gerade fertig. Keiner hat an derselben Uni studiert, treffen können sie sich trotzdem regelmäßig. Denn, einer war in Bochum an der RUB, der andere in Duisburg-Essen. Seine Freundin ist an der HRW in Bottrop. Ihre beste Freundin an der TU in Dortmund. Ein anderer geht auf die westfälische Hochschule in Gelsenkirchen. Ihr Freund hatte für eine Zeit lang im Norden Chemie studiert, nun arbeitet er in Mülheim beim Max-Planck-Institut für Kohlenforschung. Er ist zurückgekehrt. Schon cool. Alle machen was anderes, alle waren woanders. Alle können trotzdem als Gruppe zusammenbleiben. Das denkst du dir kurz bevor du bei dir zuhause ins Bett fällst. Der Abend war lang und du bist kaputt aber zufrieden.

Sonntag, 10 Uhr. 

Deine Freundin weckt dich. So langsam solltest du aufstehen. Nach einem gemeinsamen Frühstück macht ihr euch an die Tagesplanung. Die letzten beiden Tage haben ein bisschen an dir gezehrt. Daher: Etwas entspannteres soll es sein. Erste Idee: Museum. Auswahl gibt es genügend. Bergbaumuseum in Bochum? UNESCO Welterbe Zeche Zollverein oder Folkwangmuseum in Essen? Fußballmuseum in Dortmund? Welche Ausstellung ist eigentlich gerade im Gasometer in Oberhausen? Oder doch die Camera Obscura in Mülheim? Ne, heute bist du etwas träge. Das, was du brauchst, ist Naherholung. Unglücklicherweise hat sie Lust auf Aktivität. Worauf ihr euch einigt, ist ein Kompromiss. 

Ihr schwingt euch auf eure Räder. Ihr müsst ein bisschen fahren. Zum Glück wird hier gerade ein Radschnellweg gebaut. Fertig? Noch nicht, aber immerhin einen Teil könnt ihr bereits nutzen. Zuerst geht es mit dem Rad auf eine Halde. Etwas, das wie kaum etwas Zweites      für diese Region steht. Ein riesiger Berg Abraum ist es eigentlich. Müll, den die Zechen angehäuft haben. Jetzt ist es ein künstlicher Berg, alles grün. Eine Art selbst geschaffene Wanderlandschaft. Mit einem Plateau, dessen Aussicht man sonst nur selten hat. Von da oben siehste alles. Sogar über das Revier hinaus bis nach Düsseldorf zum Rheinturm, jedes hohe Gebäude. Die ganze Industriekultur. Aber auch alle unzähligen grünen Parks. So viele und so viel Fläche, dass du sie nicht zählen kannst. Skulpturen oder Observatorien gibt es da oben auch – natürlich. Und natürlich kommt man hier auf so eine Idee. Motto: Das Beste draus machen. 

Woanders wären das für immer Berge voll Müll geblieben, hier nicht. Nicht in einer Region, die sich ständig neu erfindet, sich selbst aber treu bleibt. Ersteres, weil sie es muss, zweiteres, weil sie es kann. Früher: Dreckige Luft in den Städten, Ruß. Dafür hatten alle Maloche. Und was für eine wichtige! Damals als Deutschland kaputt war. Wie Herbert sagte: „Dein Grubengold hat uns wieder hochgeholt“. Danach: Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit, ein ganzer Wirtschaftszweig, der Identität gibt, wech. Der zweite, der Stahl auch schleichend. Teilweise verfallende Wohnsiedlungen. Andere Regionen, andere Menschen ergeben sich, alles wird trist. Doch hier? Muss, ne. Heute: Wissenschaftsstandort, Industriestandort, größter und wichtigster Ballungsraum Deutschlands, das Herz des größten deutschen Bundeslandes.

Ups, fast bist du gegen eine Laterne gefahren, zu sehr hast du dich in diesen Gedanken verloren. Paar hundert Meter noch, dann seid ihr an der Halle. Der Weg hierhin, das gehört zur Wahrheit dazu, sieht nicht immer schön aus. Aber schöner als manche denken, schöner als man es mit der Vorgeschichte meinen könnte? Doch, schon. Ihr stellt eure Räder unten ab, hoch werdet ihr wandern. Paar Stunden später seid ihr wieder unten. Ein schöner, der anstrengende Teil des Tages ist vorbei. In der Nähe der Halde wartet die Belohnung. Sie gibt es an dem heiligen Ort, den man hier als Pommesbude bezeichnet. Seitdem du drei Jahre in Rheinland-Pfalz verbracht hast, nimmst du das nicht mehr für selbstverständlich. Es sind Orte, in denen das Einfache – vor allem Currywurst, Pommes, Mayo – zur Kunst, weil einfach, aber perfekt, wird. 

Zum Ausklang des Wochenendes geht es noch ans Wasser. Nein, nicht ans Meer. Dat brauchse hier nich. An den See. Der ist – wie könnte es anders sein – selbst geschaffen, selbst angepackt. Nicht alle, aber die meisten sind – wie könnte es anders sein – Ruhrstauseen. Also das was dem ganzen hier den Namen gibt und ohne das die ganze Geschichte hier anders gelaufen wäre. Drumherum Gastro, Wanderstrecken, viel Grün, Aussichten. Kurz diskutiert ihr, ob es jetzt der Baldeneysee, der Kemnader See, der Kettwiger See, der Harkortsee oder vielleicht doch der Phoenixsee wird. Am Ende landet ihr dort, wo in der Nähe is. Danach geht es nach Hause, ab in die Falle. Morgen musse wieder früh raus. Daran denkst du jetzt aber nich, denn diese drei Tage haben dir alles gegeben, watte brauchs. Du bist zufrieden.

So oder so ähnlich kann ein Wochenende im Ruhrgebiet aussehen. Klingt gut, oda? Sicher, es gibt Regionen, die haben die Alpen. Es gibt Regionen, die haben das Meer. Es gibt Regionen, die passen besser auf Postkarten. Aber wo gibbet alles, was du brauchst? Widersprüche, Stadt neben Stadt, Kulturangebote tagsüber und nachts an den geilsten und dazu authentischsten Orten? Klassen, die alle ein gemeinsames Hobby haben, die sich dort treffen, Berührungspunkte haben. Menschen, die offen, hilfsbereit sind. Nicht falsch sind, sondern wo du immer weißt, wo du dran bist? Kollektive Stehaufmännchen? Wissenschaft und Naherholung? Wo der Alltag eher grün als grau ist. In der Folklore und Wurzeln da sind, aber nicht aufgezwungen, sondern authentisch sind? In denen du neben allen schönen Facetten auch das Gesamtpaket bekommst? Auch Probleme und Hässlichkeit. Eine Region, in der du alles hast, was du willst und brauchst, aber auch alles, was du nicht willst, aber brauchst? Eben.

Der Bochumer Kabarettist Frank Goosen sagte mal: „Woanders is auch scheisse!“ und „Nicht schön, aber meins“. Ich würde ihn gerne ein bisschen korrigieren. Selten unschön, meistens schön und meins. Achja. Und wenn mein meins noch nicht dein meins ist, macht dat nix. Kommste hin, gibbste nen Pils aus, biste kein Arsch, dann is dat auch bald deins. Wat anderet wird hier nich gefragt.

Bild: sokra, 2023: https://sonjakrause-malerei.de

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