Lass mal mehr über Psyche reden!

Psychische Erkrankungen und Therapie sind nach wie vor gesellschaftliche Tabuthemen, die mit Scham, Unwissen und Vorurteilen verknüpft sind. Dabei betreffen sie einen großen Anteil von Menschen. Wie wäre es, alles zu verändern?
Psychische Krankheiten: Zahlen und Fakten

Liest man die statistischen Fakten zu psychischen Erkrankungen in Deutschland, erscheint es immer unverständlicher, wieso rund um dieses Thema ein derart großes Tabu herrscht: So erkrankt laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) fast jede:r dritte Erwachsene im Laufe eines Jahres an einer Depression, Angststörung oder einem anderen psychischen Leiden.1 Fast jede:r Vierte erfüllt innerhalb eines Jahres die Kriterien einer voll ausgeprägten psychischen Erkrankung.2 Zum Vergleich: Das sind ca. 17,8 Millionen Menschen jährlich, was der Gesamtbevölkerung von NRW entspricht. 

Die Zahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen hat im Laufe des letzten Jahrzehnts ebenfalls um mehr als 50 % zugenommen,3 in den letzten 20 Jahren ist eine Verdreifachung nachweisbar 4 – Tendenz steigend. Beachtenswert hierbei: Studien legen keinen großen Anstieg von psychischen Erkrankungen nahe, lediglich die Anzahl der Diagnosen im Versorgungsalltag nimmt zu.5 Durch mehr Sensibilität für mentale Gesundheit und gewachsene Beeinträchtigungen durch Störfolgen werden psychische Erkrankungen also nur häufiger diagnostiziert.

Junge Menschen sind besonders betroffen – und was ist mit Therapie?

Es ist unschwer erkennbar: Die Problematik betrifft die Gesellschaft als Ganzes. Sie kostet uns auch etwas. Die direkten Gesundheitskosten durch psychische Erkrankungen betragen pro Jahr fast 45 Milliarden Euro.6 Jedoch ist Geld nicht die einzige Ressource, die eingesetzt werden muss. Gerade junge und sozial schlechter gestellte Menschen sind häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen als andere.7 Die 18-34-Jährigen sind mit 36,7 % Betroffenenanteil die größte Gruppe. Bei sozial schwachen Menschen ist der Anteil mit 37,9 % ebenfalls sehr hoch. Ein plastisches Beispiel: Drei von vier wohnungslosen Menschen leiden aktuell an einer psychischen Erkrankung. Insgesamt machen Erkrankungen aber vor keiner Gesellschaftsschicht halt. 

Nur jede:r fünfte Betroffene begibt sich in Behandlung.8 Dies hängt mit fehlenden Verfügbarkeiten innerhalb des Gesundheitssystems zusammen – allerdings auch immer wieder mit diskursiven Zusammenhängen und Tabus. Viele, die ihrer Oma oder einem Elternteil schon einmal erzählen wollten, dass er oder sie eine Therapie macht, sieht sich den immer noch immer wieder vorherrschenden Meinungen und Vorurteilen gegenüber einer Behandlung mentaler Probleme ausgesetzt.

Verbindung schaffen statt Hindernisse bauen

Wir müssen uns daher fragen: Was sind wir wirklich bereit, für einen normalisierten Umgang mit psychischer Gesundheit, sozialer Gerechtigkeit und die Zukunft junger Menschen einzusetzen? Unser gesamtgesellschaftlicher Umgang mit psychischen Problemen und Erkrankungen muss sich verändern! Das Tabu, das dem Thema anhaftet, macht bei näherer Betrachtung keinen Sinn. Schon rein statistisch kennt jede:r jemanden, der oder die mit psychischen Problemen oder Krankheiten zu kämpfen hat. Wieso also verteufeln und schlecht machen, statt mit offenen Armen und Verständnis zu reagieren?

Jeder Mensch weiß, wie es ist, wenn man sich schlecht fühlt. Nun stelle man sich einmal vor, dieser Zustand würde andauern, sich immer mehr verlängern und mitunter sogar verschärfen. Psychische Erkrankungen gehen mit Veränderungen des Denkens und Fühlens, der Wahrnehmung, oder auch des Gedächtnisses und des Verhaltens einher. Das führt mitunter dazu, dass andere abgeschreckt oder eingeschüchtert sind, sich nicht trauen, Kontakt aufzunehmen oder nachzufragen. Ein offenes aufeinander Zugehen würde allen helfen, den Umgang zu normalisieren. Denn am Ende sind Menschen vor allem auf der Suche nach Verbindung und danach, verstanden zu werden.

Wege für mehr Bewusstsein

Mehr Transparenz damit und mehr Kommunikation darüber in der Gesellschaft würde Betroffenen helfen, ärztliche Hilfe ohne Angst vor Verurteilung in Anspruch zu nehmen. Durch die Politik muss außerdem die lange überfällige und von vielen Expert:innen geforderte Aufstockung der Kassenzulassungen für Therapeut:innen erfolgen. Das Stigma, das mentalen Problemen anhaftet, muss aufgelöst und durch mehr Verständnis und mehr Rücksichtnahme abgelöst werden, beispielsweise durch frühe Sensibilisierung in Schulen und mehr kostenlose Anlaufstellen für Betroffene. Sich wegen körperlicher Krankheiten und Gebrechen behandeln zu lassen, wird niemals in Frage gestellt – wieso also dann bei psychischen? Niemand ist weniger wert oder schwach, weil er oder sie sich therapeutische Hilfe sucht, im Gegenteil: Sich Hilfe suchen, allein oder mit Unterstützung, zeugt von wahrer Stärke.

Sokra, 2023: https://sonjakrause-malerei.de

1 https://www.dgppn.de/die-dgppn/ueber-die-dgppn.html

2 https://www.dgppn.de/schwerpunkte/zahlenundfakten.html

3 https://de.statista.com/themen/1318/psychische-erkrankungen/#topicOverview

4 ebd.

5 https://flexikon.doccheck.com/de/Pr%C3%A4valenz

6 https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/f80fb3f112b4eda48f6c5f3c68d23632a03ba599/DGPPN_Dossier%20web.pdf

7 ebd.

8 ebd.

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