Ob in der Industrie, im Handwerk oder in der Pflege: Überall fehlen tüchtige Hände, die die Zahnräder der Gesellschaft am Laufen halten. Denn obwohl die geburtenstarken Jahrgänge – die sogenannten Babyboomer – erst in ein paar Jahren in Rente gehen, macht sich der demografische Wandel in Deutschland schon jetzt bemerkbar. Bereits heute erreichen in Deutschland jährlich rund 350.000 Menschen das Rentenalter. Während aktuell bundesweit mehr als 1,7 Millionen unbesetzte Stellen ausgeschrieben sind, werden Prognosen der Bundesagentur für Arbeit zufolge 2035 rund sieben Millionen Erwerbstätige fehlen.1 Betroffen sind nicht nur Stellen für qualifizierte Fachkräfte, sondern auch solche, die ohne Berufsausbildung ausgeführt werden können.2 400.000 neue Fachkräfte – so viele würde Deutschland jährlich benötigen, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken.3 Da die Qualifizierung ungelernter Arbeitskräfte sowie die Arbeitszeitverlängerung von unfreiwillig in Teilzeit beschäftigten nicht ausreichen wird, erhofft sich die Bundesregierung den Mangel durch gezielte Zuwanderung zu entschärfen.4
Migration: Die einzige Möglichkeit?
Um im „globalen Wettbewerb um Talente“5 erfolgreich zu sein, beschloss die Ampelregierung deshalb in ihrem 2021 verabschiedeten Koalitionsvertrag eine radikale Überarbeitung des deutschen Staatsbürgerschafts- und Einwanderungsrechts. Nun hat das Bundeskabinett am 30. November 2022 als eines von drei Migrationspaketen das Eckpunktepapier zur Fachkräfteeinwanderung6 aus Drittstaaten vorgelegt. Arbeitswilligen aus Nicht-EU-Ländern soll einfacher die Möglichkeit eröffnet werden, ihren Lebensunterhalt in der Bundesrepublik zu bestreiten und somit einen Beitrag zur wirtschaftlichen Stabilität Deutschlands zu leisten.
Allerdings findet die Perspektive der Staaten, in denen qualifizierte Arbeitskräfte abgeworben werden, darin kaum Erwähnung. Vielmehr werden die Konsequenzen, welche eine verstärkte Fachkräfteabwanderung in bereits von Massenauswanderung betroffenen Regionen verursacht, vollkommen ignoriert.
Das Verschwinden der Balkanstaaten: Wo sind denn plötzlich alle?
Der Balkan hat weltweit am stärksten mit dem Verlust von hochqualifizierten Arbeitskräften zu kämpfen. Ein Phänomen, das auch als sog. “Brain Drain”7 umschrieben wird. Laut der Weltbank sind zwischen 1990 und 2019 insgesamt 4,9 Millionen Menschen aus den Balkanstaaten abgewandert, was fast 25 Prozent ihrer Gesamtbevölkerung entspricht. Dabei ging etwa die Hälfte der Emigrierenden nach Westeuropa, allen voran nach Deutschland.
Während sich die westeuropäischen Länder über arbeitswillige Einwandernde freuen konnten, die den wirtschaftlichen Erfolg Westeuropas mittragen, wurden die wirtschaftlich ohnehin schon schwachen Balkanländer weiter geschwächt.
Schätzungen zufolge haben die Länder Osteuropas und des westlichen Balkans durch die Ausbildung junger Arbeitnehmenden, die zwischen 2009 und 2017 eine Tätigkeit in Deutschland aufgenommen haben, mehr als 200 Milliarden Euro in die deutsche Wirtschaft investiert. Diese Summe übersteigt bei Weitem die Heranführungshilfen der EU für eine Mitgliedschaft, die in die Westbalkanstaaten investiert werden.8
Die Erfüllung der EU-Standards: Wenn das doch so einfach wäre!
Auch in politischer Hinsicht geht der “Brain Drain” nicht spurlos an den Balkanstaaten vorbei. Weil hauptsächlich junge, gebildete und tendenziell liberale Menschen abwandern, fällt es schwachen politischen Eliten leichter, länger an der Macht zu bleiben. Immer weniger hochqualifizierte Wähler:innen und Politker:innen stehen zur Verfügung.
Verursacht durch die Aushöhlung der Wirtschaft sorgen neben Korruption und organisierter Kriminalität der Einfluss von Beziehungen sowie ineffektive Führungsmächte für eine Verlangsamung der Anpassung an EU-Standards. Die folglich erschwerte Erfüllung der Haushaltskriterien, die für eine EU-Mitgliedschaft nachgewiesen werden müssen, lassen somit den angestrebten Beitritt in weite Ferne rücken.9
Osteuropa droht demografisch zu verschwinden
Die Angst vor dem „Aussterben der Nation“10 ist groß. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass knapp die Hälfte der Staatsbürger:innen von Bosnien und Herzegowina gar nicht mehr im eigenen Land leben. In Albanien sind es rund 40 Prozent und in Nordmazedonien ungefähr 35.11 Die verheerenden Folgen dieser Entwicklung bringt der bulgarische Wirtschaftsminister Emil Karanikolow in einem nationalen TV-Sender auf den Punkt, als er berichtet, dass die Wirtschaft beginne, Verträge und neue Aufträge aufgrund von Arbeitskräftemangel abzusagen.12 Aber nicht nur die Westbalkanstaaten, sondern auch andere osteuropäische Länder sind betroffen. „Wir sind eine im Verschwinden begriffene Nation“, beklagt Marian Hanganu, Chef der rumänischen Headhunting-Firma Colorful, die Massenauswanderung aus einem der ärmsten EU-Länder. Außerdem würden aufgrund des wachsenden Personalmangels immer weniger multinationale Unternehmen in rumänische Firmen investieren.13
Die Balkanstaaten werden von den nutznießenden westeuropäischen Wirtschaftsmächten weitestgehend ihrem Schicksal überlassen. Besonders hart geht der kroatische Politologe und Bevölkerungsexperte Tado Juric mit Berlin ins Gericht und fordert, dass die Bundesrepublik seine demografischen Probleme nicht durch die Zuwanderung aus Südosteuropa zu lösen versuchen sollte: „Ich halte es für unfair, dass sich Deutschland auf unserer aller Kosten selbst rettet.“ Die EU müsse sich mit dem Problem der „unfairen Migration“ befassen.14
Deutschland in Sachen Einwanderung: Modern oder mordend?
Das ist die entscheidende Frage. Denn selten wird bedacht, dass der sog. “Brain Drain” die Wirtschaftsstabilität ganzer Nationen ins Straucheln bringt und Völkergemeinschaften, wie sie einst existierten, zu verschwinden drohen. In den Überlegungen der Bundesregierung zur Steigerung der Fachkräfteeinwanderung wird diese Problematik nur am Rande erwähnt und kaum thematisiert. In ihren Reformideen setzt sie sich hauptsächlich mit einer Erleichterung der Einbürgerung sowie der Attraktivitätssteigerung des deutschen Arbeitsmarkts auseinander. Auch von Seiten der EU-Staatengemeinschaft erfahren gefährdete Länder nur wenig Unterstützung. Dass die Menschen aus diesen Regionen vermehrt dauerhaft ihre Heimat verlassen, um anderenorts zu arbeiten und zu leben, ist Ergebnis eines ewigen Teufelskreislaufs aus Abwanderung, zunehmender wirtschaftlicher Schwäche und politischer Unzufriedenheit, die eine abnehmende Lebensqualität zur Folge hat.
Die Zukunft der Balkanstaaten sieht finster aus. Welche Perspektiven stehen einem Land offen, das mehr und mehr seiner Existenzgrundlage – der Bevölkerung – beraubt wird? „Es stellt sich die Frage, ob Deutschland seine durch den demografischen Wandel verursachten Probleme tatsächlich auf diese Weise lösen möchte.“
1 https://www.dw.com/de/deutschland-sucht-dringend-arbeitskr%C3%A4fte/a-62598680
2 ebd.
4 https://www.dw.com/de/deutschland-braucht-400000-migranten-pro-jahr/a-58962209
5 https://www.dw.com/de/deutschland-braucht-400000-migranten-pro-jahr/a-58962209
7 Wörtlich übersetzt bedeutet Brain Drain Abfluss von Gehirn und beschreibt im übertragenen Sinne den Abfluss von Intelligenz und Verstand. Hochqualifizierte Arbeitskräfte verlassen ihre Heimat, um ihre Fähigkeiten dauerhaft an einem anderen Ort auszuschöpfen, der bessere Arbeits- und Lebensbedingungen bietet.[siehe https://www.wirtschaftundschule.de/wirtschaftslexikon/b/brain-drain/ ]
Der Brain-Drain verursacht gravierende gesamtökonomische sowie politische Folgen für diese Region. Das große Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage beeinträchtigt die Effizienz des Arbeitsmarkts. Hemmt der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften das Wachstum und ausländische Investitionen, sorgt zudem eine schwache Wirtschaftskraft für unattraktive Arbeitsbedingungen.[siehe https://www.derpragmaticus.com/r/balkan-brain-drain/ ]
8 https://www.derpragmaticus.com/r/balkan-brain-drain/
9 https://www.derpragmaticus.com/r/balkan-brain-drain/
10 https://www.nzz.ch/international/abwanderung-und-diaspora-auf-dem-balkan-und-im-baltikum-ld.1603310
11 https://www.diepresse.com/6138766/brain-drain-gefaehrdet-den-westbalkan
12 https://industriemagazin.at/artikel/abwanderung-der-balkan-blutet-aus/
13 ebd.
14 https://industriemagazin.at/artikel/abwanderung-der-balkan-blutet-aus/
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