Einmal ohne Ticket ins Gefängnis, bitte!

Am 31. Juli ist es wieder so weit. Das 9-Euro-Ticket verfällt. Wer sich kein 9-Euro-Ticket für den August kauft, dem droht schlimmstenfalls Gefängnis. Und zwar nicht, weil die Geldstrafe nicht bezahlt werden kann. Eine aufklärerische Kurzgeschichte.

Im Jahr 2019 konnten ca. 620.000 Personen und damit drei Prozent der kontrollierten Fahrgäste des öffentlichen Nahverkehrs in Berlin keinen gültigen Fahrschein vorweisen.1 22.450 von ihnen wurden von den Verkehrsbetrieben angezeigt. Einer von ihnen ist Nils, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt, sondern als Role-Model für diese fiktive Geschichte fungiert. Er wurde nicht wie die meisten anderen wegen „Erschleichen von Leistungen“, besser bekannt als „Schwarzfahren“, angezeigt. Ihn hat es schlimmer getroffen, weil er größeres Unrecht begangen hat. Ihm droht Gefängnis.

Nils ist 22 Jahre alt. Er kommt aus Berlin. Harzer Straße. Platte. Problembezirk. In seiner Kindheit wurde er von seinem Vater misshandelt. Von ihm hat er gelernt, Probleme mit den Fäusten zu klären. Von der Realschule ist er mit 14 Jahren abgegangen. Schlägereien und Drogen. Vorbestraft. Doch dann lernte Nils Pia kennen und fing eine Ausbildung zum Kfz Mechatroniker an. Ihre Bedingung für eine Zukunft zu zweit. Er zog bei ihr ein. Berlin-Kreuzberg. Altbau. Stuck. Sozialer Aufstieg. Sein Leben hat sich beruhigt, er ist glücklich.

Dann kommt der Tag der Abschlussprüfung. Die fünf Kilometer zur Werkstatt und Berufsschule fährt Nils immer mit dem Fahrrad. Die frische Luft tut ihm gut. Auch heute will er mit dem Fahrrad fahren, doch sein Rad hat einen Platten. Der Nagel liegt noch daneben auf dem Boden. Also Straßenbahn. Kein Problem. Er ist früh dran. In der Straßenbahn will er sich ein Ticket kaufen, erfolglos. Der Automat hat keinen guten Tag. Sein Zehneuroschein auch nicht. Verknickt. Kleingeld hat Nils nicht dabei. Sein Versuch, mit Karte zu bezahlen, scheitert. Dann eben kein Ticket.

An der vorletzten Haltestelle stehen vier Personen beisammen. Dunkel gekleidet, Bauchtasche. Nils ist vertieft in seine Karteikarten. Er wird von einem Mann aus seinen Gedanken gerissen: „Fahrausweis!“ Nils ist perplex, stammelt, bringt kein Wort über die Lippen. „Ihr Fahrschein?!“ Drei neben ihm sitzende Jugendliche kichern. „Der Automat ist kaputt. Er hat meinen Schein…“ Ein alter Mann guckt verächtlich. „Typisch.“ Die Bahn bremst. „Das kostet 60 Euro. Ich muss ihre Personalien aufnehmen.“ Nils fühlt sich unfair behandelt, spürt die unkontrollierbare Wut aus der Kindheit in sich aufsteigen. Was gucken die Leute so?! Er springt auf, schubst den Kontrolleur zur Seite und stürzt durch die sich öffnenden Türen davon.

Nils besteht die Prüfung. Die Werkstatt übernimmt ihn. Sechs Monate später dann die Überraschung. Anklage. Straftatbestand: Erschleichen von Leistungen, besser bekannt als „Schwarzfahren“. Und: Räuberische Erpressung. Nils ist fassungslos. Er hatte den Vorfall fast vergessen. Aber räuberische Erpressung?!

Nils ruft Anton an. Ein guter Freund von Pia. Jura-Student. „Das sieht nicht gut aus, Nils. Mindeststrafe: Ein Jahr Gefängnis. In minder schweren Fällen: Sechs Monate bis zu fünf Jahre. Bewährung möglich, immerhin. Aber anders als beim bloßen Schwarzfahren kommst du bei der räuberischen Erpressung nicht bloß mit einer Geldstrafe davon.“ „Wie geht das? Was kann ich dafür, wenn der Automat nicht funktioniert? Und warum räuberische Erpressung?“

„Hör mir zu: Schwarzfahren ist nicht gleich Schwarzfahren. Entscheidend ist, wie du dich im Zeitpunkt der Kontrolle verhalten hast. Überleg mal, anders gedacht: Du hast nicht bloß Geld geklaut, sondern dann auf der Flucht auch noch einer Person ins Gesicht geschlagen. Klar, dass das Klauen anders sanktioniert wird als Gewalt gegen eine Person! Was hast du denn gedacht? Je wichtiger das geschützte Gut von der Rechtsordnung eingestuft wird, desto schärfer fällt die Sanktion aus. Der Straftatbestand des ‚Erschleichens von Leistungen‘ schützt ausschließlich das Vermögen des Beförderungsunternehmens. Der Tatbestand der ‚Räuberischen Erpressung‘ schützt zusätzlich etwas anderes: Den freien Willen und die Entscheidungsfreiheit des Kontrolleurs und dadurch mittelbar dessen körperliche Unversehrtheit. Verstehst du das? Niemand soll durch Gewalt gezwungen werden, etwas bestimmtes zu tun oder zu unterlassen.

Deshalb bist du bei weitem nicht ‘nur’ Schwarzgefahren. Ein ‚Erschleichen von Leistungen‘ liegt bereits vor, weil du ohne gültiges Ticket mit der Straßenbahn gefahren bist. Die ‚Räuberische Erpressung‘ hast du hingegen begangen, als du den Kontrolleur absichtlich geschubst hast. Durch das gezielte Schubsen hast du ihn genötigt, deinen Regelverstoß nicht zu ahnden. Du hast ihn weggestoßen, damit er deine Personalien nicht aufnehmen und du verschwinden konntest, oder?! Genau das ist das Problem. Die ‚Räuberische Erpressung‘ sanktioniert nicht dein ‚Schwarzfahren‘ selbst, sondern schließt lediglich zeitlich an dieses an. Du hättest auch im Supermarkt einen Kaugummi stehlen und dann den Ladendetektiv wegschubsen können. 

Du bist ohne Ticket gefahren. Dir kam es jetzt darauf an, die daraus folgenden Konsequenzen zu verhindern: Du wolltest das erhöhte Beförderungsentgelt von 60 Euro nicht bezahlen. Deshalb hast du gegen den Kontrolleur „Gewalt“ im juristischen Sinne, hier das Schubsen, angewandt, wodurch dessen Freiheit der Willensentschließung – und -betätigung beeinträchtigt wurde. Er verlor das Gleichgewicht, gleichbedeutend mit der Möglichkeit, frei zwischen verschiedenen Handlungsalternativen zu entscheiden. Ihm blieb keine andere Wahl, als deine Flucht hinzunehmen und zu dulden. Selbst wenn er gewollt hätte, er konnte nicht anders handeln. Das ist die klassische Situation einer ‚Räuberischen Erpressung‘: Einsatz von Gewalt, um ein gewünschtes Verhalten herbeizuführen, um daraus wiederum einen Vermögensvorteil zu erzielen. Auf Kosten eines anderen, des Verkehrsunternehmens. Du hast richtig Scheiße gebaut, Nils. Hol dir eine Strafverteidigerin.“ Nils legt auf. Er ist schockiert. Das wusste er nicht.

Jeder könnte Nils sein

Nils mag bloß eine fiktive Gestalt in einer fiktiven Geschichte sein. Und von der oben genannten Anzahl an Personen, die wegen Fahrens ohne Fahrschein angezeigt werden, werden nur die wenigsten eine ‚Räuberische Erpressung‘ begangen haben. Dennoch gehören Schwarzfahrer wie Nils zum Tagesgeschäft von Strafverteidiger:innen.2 So hat unter anderem das Landgericht Freiburg einen ähnlichen, recht bekannten Fall verhandelt.3 Schließlich zeigt die Kurzgeschichte, wie schnell die Aneinanderreihung unglücklicher Umstände in einem Fiasko enden kann, bei dem das Strafgesetzbuch für das begangene Unrecht nicht bloß die Sanktion der Geldstrafe vorgesehen hat. Und so bedarf es nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass auch andere Charaktere, mit weniger klischeehafter Biographie, verleitet sein könnten, in konfliktbehafteten und schamvollen Situationen, wie der einer Ticketkontrolle in der Öffentlichkeit, unüberlegt und falsch zu handeln. 

Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit ändert nichts an Nils Schicksal

Nun mag der eingangs angedeutete Bezug der Kurzgeschichte zum 9-Euro-Ticket recht groß erscheinen. Allerdings ist dem nicht so: Immer wieder wird in der öffentlichen Debatte um den Straftatbestand des „Schwarzfahrens“ von der Notwendigkeit gesprochen, diesen zur Ordnungswidrigkeit herabzustufen. Grund für diese Forderung ist die Tatsache, dass ein nicht geringer Teil, der zu einer Geldstrafe verurteilten Schwarzfahrer, im Gefängnis landet, wenn sie die Geldstrafe nicht bezahlen können. In diesem Kontext gilt es aufzuzeigen, dass unserem Nils die Herabstufung des „Schwarzfahrens“ zur Ordnungswidrigkeit nicht helfen würde. Ihm würde dennoch der Aufenthalt im Gefängnis drohen, denn: Strafgrund ist schließlich das Schubsen des Kontrolleurs und nicht allein das „Schwarzfahren“. Die Räuberische Erpressung wäre also dennoch verwirklicht – Ordnungswidrigkeit hin oder her.

Erfreulich ist somit, dass seit Einführung des 9-Euro-Tickets im Juni 2022 deutlich weniger Fahrten ohne Fahrschein erfasst werden als noch vor dem 9-Euro-Ticket. Nach Auskünften eines Sprechers der Nordwestbahn gegenüber der ‚Zeit‘ seien von Mai auf Juni die ausgestellten Bescheide, mit denen erhöhte Beförderungsentgelter eingefordert werden, um zwei Drittel zurückgegangen. Einem Vias-Sprecher zufolge, sei die Zahl seit dem 1. Juni gegenüber dem ersten Halbjahr pro Woche im Schnitt gar um 45 Prozent gesunken.4 Dementsprechend scheint das 9-Euro-Ticket insbesondere auch bei den Personen angekommen zu sein, die sich zuvor kein Ticket leisten konnten oder wollten und dennoch Bus oder Bahn in Anspruch nahmen. Für all diese Fahrgäste sinkt das Risiko, sich im Falle einer Ticketkontrolle noch weiter in strafrechtlich relevanter Weise verhalten zu können.

Tücken beim 9-Euro-Ticket: Plötzlich Schwarzfahrer:in?

Zum anderen häufen sich Berichte von Fahrgästen, die sich aufgrund des Besitzes eines 9-Euro-Tickets auf der sicheren Seite wähnten, plötzlich aber doch dem Vorwurf des Schwarzfahrens ausgesetzt sind. Denn das 9-Euro-Ticket ist nicht in allen Regionalbahnen nutzbar. Im 9-Euro-Ticket inbegriffen sind ausschließlich Züge der DB Regio, die Bahnen des DB Fernverkehrs hingegen nicht – auch wenn diese im Regionalverkehr eingesetzt werden. Erkennen kann man die Regionalzüge des DB Fernverkehrs insbesondere am Bahnsteig, denn die Züge sind anders als die roten DB Regio-Züge weiß.

Und nicht vergessen werden sollte eins: Das 9-Euro-Ticket gilt nur für den jeweiligen Kalendermonat. Unabhängig davon, ob das 9-Euro-Ticket am 1. oder 20. Juli gekauft wurde, endet dessen Gültigkeit mit Ablauf des 31. Juli. Ab dem 1. August wird also ein neues 9-Euro-Ticket benötigt. Ansonsten wird – unabhängig von einer Kontrolle – der Straftatbestand des Erschleichen von Leistungen erfüllt. Dies gilt es zu vermeiden und im schlimmsten Fall bei der Kontrolle besonnen zu reagieren. Denn:

„Die schlimmsten Fehler werden gemacht in der Absicht, einen begangenen Fehler wieder gut zu machen.“

Jean Paul Friedrich Richter
© Sokra 2022, https://sonjakrause-malerei.de/

1 Tagesspiegel, Drei Prozent Schwarzfahrer in Berlin, 14.02.2020. Abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/620-000-menschen-ohne-ticket-erwischt-drei-prozent-schwarzfahrer-in-berlin/25547372.html (Abrufdatum: 28.07.2022).
2 Der Verfasser hat im Rahmen seiner juristischen Ausbildung zwei Praktika in Strafrechtskanzleien in Mainz absolviert. Zudem war er als Referendar Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft Leipzig und verbrachte weitere 9 Monate bei einem Strafverteidiger in Leipzig.
3 LG Freiburg, Urt. v. 09.10.2007, 7 Ns 140 Js 10353/07. Abrufbar unter: https://openjur.de/u/350942.html (Abrufdatum: 28.07.2022).
4 Zeit-Online, Weniger Schwarzfahrer seit Einführung des 9-Euro-Tickets, 12.07.2022. Abrufbar unter: https://www.zeit.de/news/2022-07/12/9-euro-ticket-weniger-passagiere-ohne-gueltigen-fahrschein?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F (Abrufdatum: 28.07.2022).

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