Das Bild der Frau

Die Frau hinter der Maske

Jeden Tag sitze ich ihr in der Straßenbahn gegenüber. Groß, schlank, makelloses Äußeres. Teure Kleidung, immer mit Wichtigem beschäftigt. Unbekannte Bekannte, wer bist du?

Du siehst mich nicht. Für dich bin ich Luft wie alle anderen auch, die sich um uns herum befinden. Aber ich sehe dich. Ich beobachte dich. Jeden Tag. All deine routinierten Handgriffe sind mir vertraut, wie du mechanisch deinen Handybildschirm auf eingegangen Nachrichten prüfst, wie du dein sich im Fenster der Straßenbahn spiegelndes Äußeres musterst, wie du dir keck eine Strähne hinters Ohr schiebst. Unbekannte Bekannte, wer bist du?

Anfangs dachte ich wow, was für eine Frau. Eine Frau mit Charakterstärke. Intelligent muss sie sein. Wie selbstbewusst sie doch ist. Sicherlich ist sie sehr beliebt. Sie muss viele Bewunderer haben, so schön ist sie. Und garantiert ist sie erfolgreich. Ihre ganze Erscheinung strahlt Professionalität und Durchsetzungsvermögen aus. Was für eine Frau. 

Aber dann sah ich sie wirklich. Blickte hinter ihre makellose Fassade. Ihre kalten Augen, wenn sie jemandem ein warmes Lächeln schenkte. Die Unsicherheit, die sich dahinter verbarg, wenn sie spielerisch durch ihr Haar fuhr. Ihr unzufriedener Gesichtsausdruck, wenn sie sich von der spiegelnden Fensterscheibe abwandte. Die Nervosität, die sie preisgab, wenn sie geradezu zwanghaft ihren Rock glattstrich, obwohl er keine einzige Falte aufwies. 

Ein seltsames Schimmern in ihren Augen, richtete sie ihren Blick in die Ferne. Abwesend ließ sie ihn kurz auf mir ruhen. Hastig schaute ich weg. Scheu hob ich wieder meine Lider, um sie heimlich weiter zu beobachten. Unbekannte Bekannte, wer bist du?

Irgendwann begegnete ich ihr zufällig auf der Straße. Beinahe hätte ich sie nicht erkannt. Ganz anders sah sie aus: bleich, fettige Haare, die sie zu einem strähnigen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, weite, abgetragene Kleidung, in der sie unterzugehen schien. Dunkle Ringe umrandeten ihre Augen, die sie fahrig durch die Umgebung streifen ließ. Wie ein Häufchen Elend sah sie aus. Ignorieren konnte ich das nicht, waren wir einander doch bekannt. Freundlich sprach ich sie an. Wie aus einer anderen Welt gerissen, blieb sie abrupt stehen und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ob wir uns kennen würden. Na ja, wirklich kennen sei etwas anderes, aber wir seien einander bekannt. Das müsse ein Irrtum sein. Sie habe mich noch nie gesehen. Erschrocken schnellten ihre Augenbrauen in die Höhe, als ich ihr beschrieb, dass wir uns jeden Tag als unbekannte Bekannte gegenüber säßen.

Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Ob ich etwas Falsches gesagt hätte? Es sei nichts. Beschämt wandte sie sich von mir ab. Zog ihren weiten Pulli enger an sich. Ihr Unterkiefer begann zu zittern. Ihre Gesichtsmuskulatur spannte sich an. Ein Schluchzen. Eilig kramte ich mein letztes unbenutztes Taschentuch hervor und reichte es ihr. Instinktiv nahm sie es entgegen. Dann begann sie bitterlich zu weinen. Was sollte ich sagen? Worte hatte ich keine. Langsam näherte ich mich ihr. Berührte vorsichtig ihre Schulter. Sie ließ mich gewähren. Letztendlich entschloss ich mich, das einzig Richtige zu tun: Sanft zog ich sie an mich und nahm sie tröstend in den Arm. Hielt sie fest, ganz fest und ließ sie nicht mehr los, bis sie sich beruhigte. 

Das Beben ihrer Schultern ebbte allmählich ab. Ihre Muskeln entkrampften sich. Das verzweifelte Schluchzen ließ nach, ging in ein Wimmern über. Als sie irgendwann schniefend den Kopf hob, löste ich meine Umklammerung. Mein Pulli war ganz feucht, von Tränen durchweicht. Das Taschentuch, das ich ihr gereicht hatte, triefte. Aufmunternd lächelte ich ihr zu. Sie zog die Nase hoch und – ihre letzten Tränen wegblinzelnd – lächelte sie schief zurück. Lange sei es her, dass jemand sie so gehalten hätte. Verlegen senkte sie den Blick. Danke, sagte sie kleinlaut. Es habe ihr gutgetan.

Schweigen. Niemand von uns regte sich. Nach einer Weile sah sie mich wieder an. Ihre langen Wimpern waren verklebt. Ihre Augen verquollen. Die Wangen gerötet. Ihre Nase lief. Einen Augenblick trafen sich unsere Blicke. Zaghaft räusperte sie sich. Darf ich dich etwas fragen? Überrascht nickte ich. Warum hast du nicht wie all die anderen weggeschaut?

Weil du es verdient hast, gesehen zu werden. So wie du wirklich bist. Nicht wie andere dich sehen wollen.

Keine Antwort. Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Angestrengt versuchte sie, ein Schluchzen zu unterdrücken. Wie furchtbar peinlich ihr das Ganze sei, presste sie hervor. Nein, nein. Das müsse ihr nicht peinlich sein. Überfordert wandte sie sich ab. Jetzt müsse sie aber los. Gerade rechtzeitig erreichte ich in den Untiefen meines Rucksacks eine Visitenkarte, die ich in die Tasche ihres Kapuzenpullovers gleiten ließ. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, rief ich ihr noch nach. Aber da war sie schon ums Eck verschwunden. 

Am nächsten Tag sah ich mich einem leeren Platz in der Straßenbahn gegenüber. Genauso wie am darauffolgenden und dem danach.

Nachmittags ein Anruf. Unbekannte Nummer. Verwundert nahm ich ab. Sie war es. Bedankte sich und fragte zurückhaltend, ob wir mal einen Kaffee trinken wollten. Einfach nur so.

Verlegen saß sie mir gegenüber, spielte nervös mit ihrem Armband und schaute mich ab und an schüchtern an. Ich war neugierig. Ließ ihr aber alle Zeit, die sie brauchte. Der Kellner brachte unsere Getränke. Für sie eine große heiße Schokolade. Ohne Sahne, aber dafür mit einem Hauch Zimt. Ihre Tasse fest umklammernd, holte sie schließlich tief Luft und begann stockend zu erzählen. Ihre Stimme zitterte. 

Sie wisse keinen Ausweg. Innerer und äußerer Druck seien zu groß. Sie habe das Gefühl zu explodieren. Es zerreiße sie, fresse sie auf. Sie fühle sich leer, kalt. Zu keinen Emotionen fähig. Nach und nach schüttete sie mir ihr ganzes Herz aus. Aufmerksam hörte ich zu. Zeigte Verständnis. 

Von da an kam sie wöchentlich in meine Praxis. Stück für Stück legten wir frei, was sich unter ihrer Maske verbarg. Nie habe ich sie verurteilt. Aber bedauert habe ich sie. Sie begann aufzublühen. Es ging ihr besser.

All das ereignete sich bereits vor drei Jahren. Nun bekomme ich ab und an eine Postkarte von fernen Zielen, die sie bereist. Erfüllt berichtet sie mir von ihren erlebten Abenteuern. Sie habe ihre Dämonen bezwungen, habe zu ihr selbst gefunden und lebe jetzt ihre Träume.

Sokra, 2022: https://sonjakrause-malerei.de/

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